Insel Taschenbuch 1985, 315 S., ISBN 3-458-32582-4, Einzelausgaben der 10 Bände sind antiquarisch zu erwerben. Die vorgestellten Texte sind in Sammlungen oder als E-Book leicht zu finden.
Zum wilden Mann, Höxter und Corvey, Eulenpfingsten, Frau Salome, Die Innerste und Vom alten Proteus entstanden zwischen April 1874 bis August 1876 und bilden zusammen die Krähenfelder Geschichten. Der Titel war Wunsch des Verlags, Raabe sah ursprünglich den Titel Vom alten Proteus vor. Seit 1870 wohnte der Autor in einer südlich vor einem der Stadttore Braunschweigs gelegenen Gegend, die das Krähenfeld genannt wurde. Die vorliegende Ausgabe konzentriert sich auf drei der weniger humorigen als mehr konsequent durchgestalteten Erzählungen Zum wilden Mann, Höxter und Corvey und Die Innerste. Mit diesen Erzählungen befindet sich Raabes Erzählen bereits auf dem Niveau der späteren Jahre, nicht alle allerdings haben mir gleich gut gefallen. Die drei Erzählungen sind vom Umfang fast gleich, jeweils um die 100 Seiten.
Zum wilden Mann
Eine kleine Provinzstadt jenseits des Gebirges, dem Thüringerlande zu, in der Nähe der Kyffhäuser: Hier suchen Leser und Erzähler an einem sehr stürmischen Oktobertag Unterschlupf. Endlich sehen beide ein Licht, erblicken eine Apotheke und können Schutz vor dem Unwetter finden:
»Schon hat der Erzähler die Tür hastig geöffnet und zieht sich den atemlosen Leser nach, und schon hat der Wind dem Erzähler den Türgriff wieder aus der Hand gerissen und hinter ihm und dem Leser die Tür zugeschlagen, daß das ganze Haus widerhallt: wir sind darin, in dem Hause sowohl wie in der Geschichte vom Wilden Mann!«
Angekommen, und nun wird das Personal des Hauses betrachtet.
Zum wilden Mann: Hier hocken der Apotheker Philipp Kristeller, seine Schwester Dorette, Pastor Schönlank und Förster Ulebeule bei der Punschbowle und feiern dreißigjähriges Apothekenjubiläum. Kristeller erzählt, wie er als armer Geselle beim Moossuchen in der Nähe des Blutstuhls, eine Felsformation im Harz, auf den Herrn August traf, der ihm kurz nach einer unheimlich-befremdlichen Szene an eben diesem Blutstuhl einen Betrag von 9500 Talern vermachte. Mit diesem Vermögen konnte der junge Kristeller seine Karriere als Apotheker des Städtchens beginnen und die Heirat mit seiner geliebten Johanne schien nun doch möglich. Während Kristeller erzählt, treten der Landarzt Hanff und Colonel Dom Agostin Agonist, ein deutscher Auswanderer und Diener des Kaisers von Brasilien, auf. Dieser Agostin erzählt der gebannten Gesellschaft die tollsten Abenteuer und ist, so stellt es sich bald heraus, niemand anderes als der Herr August, der geheimnisvolle und wohltätige Jugendfreund Kristellers. Es wird nicht schlecht gestaunt, als dieser die Hintergründe der Begegnung von vor 30 Jahren erzählt. Überhaupt ist der Colonel in der folgenden Zeit seines Aufenthaltes wohl angesehen im Städtchen. Nur Kristellers Schwester Dorette fragt sich, was der Colonel eigentlich wolle, warum er gekommen sei. Sie ahnt nichts Gutes. Bei dieser stichwortartigen Zusammenfassung belasse ich es, damit noch genug Spannung für die Lektüre übrig bleibt. Wer nicht lesen, aber den Ausgang wissen will, mag Wikipedia bemühen.
»Die Maske des Spießers am Stammtisch war Selbstschutz«, schreibt Raabes Biograph Werner Fuld. In dieser schmalen Novelle kann man erahnen, wie Recht er haben könnte. Nach dem filmreifen Eintritt durch Sturm und Regen finden sich Leser und Leserin in schönster deutscher Gemütlichkeit wieder, dazu Punsch und dämonische Erzählungen. So mag man das. Doch dann kommt die Wirklichkeit ins Haus und die Geschichte nimmt einen unschönen Fortgang. Was bleibt vom Menschen, was von Freundschaft, nachdem abgerechnet wurde? Raabe verarbeitete für seine Erzählung ganz verschiedene Quellen, unter anderem die einer abgelegenen Apotheke in Bündheim, einem Ortsteil Bad Harzburgs, und einer Märchensammlung von Musäus. Hier Realismus, dort Mythos. Eine typische Bewegung in Raabes Werk. Auch die geschichtlichen Hintergründe dieser Zeit bilden Motive: Die zur Zeit der Erzählung in den 1860er in Deutschland noch anhaltende Auswanderungswelle etwa, aber auch die Versprechen des wirtschaftlichen Liberalismus der Gründerzeit, die im Wiener Börsenkrach 1873 enden sollten.
Zum wilden Mann enthält erstaunlich viel Symbolik für seine einhundert Seiten. Ich mag diese Erzählung sehr und meine, dass sie eine Art Prüfstein für neue Raabeleser darstellen könnte: Wer hier nicht in den Lesefluß kommt und nicht die besondere Raabsche Atmosphäre spürt, sollte vielleicht doch zugeben, dass dieser Autor für ihn nichts ist.
Höxter und Corvey
1874 veröffentlichte Raabe die Erzählung Höxter und Corvey, deren Handlung 200 Jahre zuvor spielt. Der Dreißigjährige Kriege ist vor einigen wenigen Jahren zu Ende gegangen. Nach dem Weggang der französischen Besatzer herrschen Not, Chaos und Bitternis im zerstörten Höxter an der Weser. Die einzige Turmuhr, die noch geht, ist die des nahegelegenen Klosters Corvey, das unversehrt blieb. Am Flußufer finden sich zur Überfahrt mit der Fähre nach Höxter nacheinander der Benediktermönch Heinrich von Herstelle, die alte Jüdin Kröppel-Leah und der Pastor Hans Vogedes ein. Später stößt der ehemalige Student Lambert Tewes, ein Neffe Vogedes, hinzu. Die Stimmung in Höxter ist aufgeladen, der Mob macht mobil. Nach der Übersetzung bekommt die Jüdin Kröppel-Leah das umgehend zu spüren. Tatsächlich werden in dieser Nacht Lutheraner gegen Katholiken kämpfen, um anschließend gemeinsam gegen die jüdische Bevölkerung zu rasen. Am Schluss der einhundert Seiten verhindern zwei der oben genannten Protagonisten beherzt das Schlimmste. So die Handlung, in groben Zügen.
Raabe gelingt es, die unheilvolle Stimmung in der Stadt, die Wut und die Verzweiflung spürbar zu machen. Wir leiden mit der jüdischen Bevölkerung, vor allem mit der armen alten Frau Leah. Das Hochschaukeln der Stimmung bis zur blinden Raserei empfindet man unmittelbar. Es steckt eine Menge in diesem Thema. Was Raabe allerdings nicht gelingt, ist eine gut lesbare Geschichte zu konzipieren. Ein verzögertes Lesen als Stilmittel zu erzeugen geht in Ordnung, aber hier versteht man vor lauter erwähnten historischen (oder erfundenen?) Persönlichkeiten und Begebenheiten in weiten Teil nicht, was vor sich geht. Eben noch wird man von der fatalen Stimmung mitgerissen, schon werden unvermittelt Studentenlieder gesungen, der gute alte Horaz zitiert oder ein Anekdötchen aus noch ältere Zeit zum Besten gegeben. Das passt alles nicht recht zusammen und es will kein rechter Lesefluss aufkommen. Da ist zu viel Chaos (obgleich Raabe sich bestimmt dabei etwas gedacht haben wird) und bei aller guten Absicht und gelungener Herstellung von Zeitkolorit lässt mich diese Erzählung ratlos und enttäuscht zurück.
Die Innerste
Wir befinden uns im Siebenjährigen Krieg. Der Erzähler gibt am Ende des ersten Kapitels das genaue Jahr an: 1759. Und erst einmal ist von Flüssen die Rede:
»Es waren drei Fräulein vor etwa hundertundzwanzig Jahren, und sie leben heute noch und heißen die Leine, die Ihme und die Innerste. Sie sind im Laufe der Zeiten reguliert worden; aber hübscher sind sie nicht dadurch geworden. Vor hundertundzwanzig Jahren war ihnen allen dreien nicht zu trauen; doch die Innerste war die schlimmste und ist es bis auf den jetzt vorhandenen Tag geblieben.«
Die Innerste entspringt im Oberharz, fließt durch Hildesheim Richtung Sarstedt, um dann in die Leine zu münden. Der Schauplatz der Handlung ist eine Mühle bei Sarstedt. Die Innerste ist ein launischer Fluß, sie ist wild, stinkt, schwillt gefährlich an und, so sagt man, schreit! Opfert man hier dann nicht ein schwarzes Huhn, nimmt sie sich Menschen als Opfergabe. So geht der Aberglaube.
Der Müllerssohn Albrecht Bodenhagen ist in den Krieg gegangen. Es geht das Gerücht, er sei desertiert, habe sich bei der roten Doris Radebrecker bei der Sägemühle im wilden Harz versteckt. Schließlich kehrt er nach Hause zur Mühle zurück. Der strenge Müllermeister empfängt ihn nicht grad mit offenen Armen, doch der Sohn bleibt standhaft. Dann bestimmt der Vater Liese Papenberg aus Groß Förste zu Albrechts Frau. In Gedanken ist der aber noch ganz woanders, aber es hilft nichts. Plötzlich taucht sein ehemaliger Korporal Joachim Brand auf und will Albrecht überreden, wieder ins Heer zu gehen. Bei Minden hatte Albrechts ehemaliger Vorgesetzte seinen rechten Arm verloren, sein Auftreten ist selbstbewußt, laut, einnehmend. Ein bisschen viel für den so strengen alten Müllermeister, der den Kriegsmann im Stillen aber für seine Mannhaftigkeit bewundert und Gastfreundschaft gewährt. Und Albrecht?
»Er stützte beide Arme auf den Zaun und sah die mürrische Innerste vorbeifließen.
›O Jemine‹, seufzte er, ›jedermann hat seinen Willen mit mir, und wie ich auch aufwerfen mag, es ist doch, als ob sie alle Bescheid mit mir wüßten. …‹«
Wir sind jetzt kurz vor dem fünften von zwölf Kapiteln. Es passiert noch so Einiges, aber das Grundsetting hätten wir. Enden wird diese knapp 100 seitige Erzählung in einem regelrechten Showdown. Die Innerste ist eine Geschichte mit vielen Facetten, Motiven und Themen. Es geht um Sagen und Aberglaube, so tritt der Fluß Innerste im Plot wie eine zusätzliche Person auf. Es geht viel über Krieg, um marodierende, wurzellose Gesellen, die durch die Gegend streifen, aber auch die Erziehung mit dem spanischen Rohr nach Fridericus Rex ist ein Thema. Bis fast zur Hälfte geht diese Erzählung als Erziehungsroman durch: Spanische Röhrchen und Soldatentum als Grundpfeiler der Pädagogik. Eine weitere Problematik: Der Mensch wie er seine Umwelt gestaltet und formt, nicht immer zu ihrem Vorteil. Pfisters Mühle grüßt aus der Ferne. Mit viel Gestaltungskraft für Zeit und Ort und durchaus auch psychologischen Momenten erzählt, war die Lektüre von Die Innerste eine echte Entdeckung für mich.
Raabe lesen, zwei von vielen Möglichkeiten:
Wiki-Mobileread
Digi20 der Bayerischen Staatsbibliothek
Interessant, wie unterschiedlich man das sehen kann. Die Geschmäker halt.
Beatles oder Stones. Jane oder Can. Renft oder Puhdys…
„Wer hier nicht in den Lesefluß kommt und nicht die besondere Raabsche Atmosphäre spürt, sollte vielleicht doch zugeben, dass dieser Autor für ihn nichts ist.“ Yepp. Literarischer Hausgott wird er für mich keiner.
Diese von dir hier erwähnten Hintergründe waren mir bis zur Stunde unbekannt. Sie helfen einerseits etwas Licht ins Dunkel jener holprigen Erzählweise zu bringen, die mich nun so gaaar nicht kriegt. Mir kommt da aber noch folgender Gedanke ein: Es verhält sich mit seinem Quelleneinfluss-Salat also ähnlich wie mit moderner Malerei.
Das eigene Auge sieht zunächst nur Kleckse. Die tiefsinnige Erklärung folgt, man glaubt zu verstehen, — aber letzte Zweifel bleiben: Der Kaiser ist doch nackt!
Nix für ungut. Bei mir bleibt er eben hinteres Mittelfeld. Und den „wilden Mann“ halte ich für einen Einstieg ins Raabe-Universum für ungeeignet.
Das Gute daran: Wir müssen uns nicht einig sein. Und ich freue mich grad deshalb immer wieder über Deine Kommentare und die Beiträge auf Deiner Seite! Schöne Grüsse!