Herausgegeben von Susanne Fischer. Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Suhrkamp Verlag 2018, 215 Seiten, ISBN: 978-3-518-80420-9
Alice Schmidt war eine Dichter-Ehefrau. Ihr Name ist eng mit dem ihres Ehemanns Arno Schmidt, diesem Solitär der deutschen Nachkriegsliteratur, verbunden. Das Paar heiratete 1937 in Lauban und lebte bis zum Ende des Krieges in Greiffenberg in Schlesien. Nach dem Krieg wohnten die Schmidts bis 1950 in Cordingen (ein Heidekaff, vom späteren Bargfeld nicht zu weit entfernt) in einer Flüchtlingsunterkunft. Ein Zimmer, wenig zu Essen, kaum Einkommen, unsichere Zukunft und stets vor Augen, eine Dichterexistenz führen zu müssen. Zwischen 2004 und 2011 wurden von Susanne Fischer (Literaturwissenschaftlerin, im Vorstand der Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld) die Tagebücher 1954, 1955 und 1956 herausgegeben, letztes Jahr die Tagebücher 1948/49. Diese frühen Tagebücher Alice Schmidts dokumentieren den Beginn der Schriftstellerkarriere von Arno Schmidt und sind deshalb für die Leserschaft seiner Bücher von großem Interesse. Sie zeigen den unerschütterlichen Glauben Alice Schmidt an das schriftstellerische Genie ihres Ehemanns, aber zeugen auch davon, dass eine Anbetung des Gatten als Person nicht stattfand.
Wenn ich diese Tagebücher vorstelle, komme ich naturgemäß nicht umhin, über Arno Schmidt zu schreiben. Denn fast alles dreht sich um die Karriere ihres Mannes. Die Schmidts leben trotz der vorherrschenden Enge abgekapselt, bilden etwas ganz eigenes, fern ab vom Literaturbetrieb, und ihr Blick auf ihre Umgebung ist der von Fremden. Das gilt auch für Alice. Sie hatte auf Verlangen des Mannes ihre Arbeit als Bürofachkraft aufgegeben. Er braucht sie komplett: als Schreibkraft, als Chronistin (das Tagebuch, auf sein Geheiß), als Assistentin bei Verhandlungen, als psychologische Betreuung und Beratung (das hatte er des Öfteren dringend nötig), als Expertin auf dem Schwarzmarkt (Geschick war hier notwendig, um das Überleben zu sichern), als erste Leserin seiner Werke und als Hausfrau. Ich könnte mit der Aufzählung noch lange fortfahren: Alice Schmidts Leben in und für die Firma Schmidt war grad in diesen Jahren eines, das oft kurz vor dem Nervenzusammenbruch stand. Wenn man Arno Schmidts Gemütszustände als labil bezeichnen würde, so wäre das eher untertrieben. Gut, wenn Alice Schmidt Nerven und Übersicht behielt, denn in Sachen Realitätssinn war sie ihm weit überlegen.
Inhaltlich geht es in dem Buch zuerst um die notwendige tägliche Nahrungsbeschaffung: Pilze suchen, schlechte Kartoffeln zubereiten, hoffen, dass ein Paket aus New York ankommt (die ältere Schwester von Arno Schmidt Lucy Kiesler war in die USA ausgewandert) oder eines aus Quedlinburg (die verhasste Mutter von Arno Schmidt schickte aus dem Osten!). Überhaupt die Post: Kommt nützliches Material für Schmidts Fouqué Forschung? Immer wieder die gleichen Fragen und viele Enttäuschungen. Und dann Ro!? Wann meldet sich endlich der Lump Rowohlt und veröffentlicht den Leviathan? Gegen Ende der aus der Fassung geratene Besuch der Schmidts in Hamburg bei Rowohlt: ein Höhepunkt des Buches. Oder die Anschaffung des ersten Radiogeräts. Mich hat diese Episode fast zu Tränen gerührt.
Stilistisch ist der Einfluss Arno Schmidts nicht zu verkennen: allein die jedem Tag vorangestellten Wetterberichte, die kurzen, aussagekräftigen Sätze, der Gebrauch vieler Kürzel und familieneigenen Begriffen. Auf zwei Seiten werden die Kürzel aufgelistet und erklärt (eine Arbeit, die Alice Schmidt selbst erledigt hatte, denn die Tagebücher waren ja zur späteren Veröffentlichung bestimmt). Unter fast jeder Seite befinden sich Fußnoten, die Familienbegriffe oder wichtige Zusammenhänge erklären. Hier fehlt es an nichts. Mein Lieblingskürzel ist übrigens WaT: Wanderung Arnos um den Tisch bei großer Aufregung.
Auffallend wie wenig reflektiert sich das Ehepaar Schmidt 1948/49 bezüglich der Unkultur der NS-Zeit zeigt. Da ist von dummen & fetten Halbpolenpack und von einem ostischen Gesicht die Rede und Arno Schmidt dichtet »Mit alten Weibern, Jugoslawen, Polen, / das ganze Kropzeug mag der Teufel holen!«. Jupiterseidank nur wenige Stellen so in dem Tagebuch, aber sie lassen mich doch schlucken. Überhaupt ist der Blick auf Katastrophen in der Nachbarschaft auffallend kühl. Ansonsten wählt das Paar SPD.
Zur Buchgestaltung: Arno Schmidt, der sehr gern benotete, auch Arbeiten und Übungen seiner Frau (!), hätte, da wette ich, die Note 1, mindestens 2 vergeben. Schlicht und edel, der Form eines klassischen Tagebuchs angepasst, entzückt es das Auge. 215 Seiten beinhalten ein einführendes Vorwort der Herausgeberin Susanne Fischer, die genannten Erklärungen der Abkürzungen, die beiden Tagebücher von 1948 und 1949, Abbildungen, Beilagen und Fotografien, ein editorisches Nachwort, wieder von Susanne Fischer, und am Schluss ein Register. So kann man in den Tagebüchern Erwähntes leicht in den Werkausgaben wiederfinden. Da bleiben kaum Wünsche offen.
Braucht es diese Tagebücher? Unbedingt! Für Arno Schmidt LeserInnen sowieso, bekommen diese doch einen neuen, faszinierenden Einblick in den schwierigen Beginn der Schriftstellerkarriere von Arno Schmidt. Und für Menschen, die mit Arno Schmidt nicht so viel am Hut haben, könnte es unter Umständen als unverfälschtes Zeitdokument der unmittelbaren Nachkriegszeit von Interesse sein. Die Verfasserin dieses Eintrags war und ist von diesen Tagebüchern begeistert und hat parallel einige der kürzeren Arbeiten Arno Schmidts, die im Tagebuch erwähnt wurden, mit neuem Blick gelesen.
Ich habe mir erlaubt, auf diesen feinen, ausführlichen Besprechungstext hinzuweisen in meinem Blog, hoffe, das ist erlaubt!
Gruß von Sonja
Aber gerne doch Sonja. Ich freue mich! Danke!
(Wobei ich denke, dass sie mehr war als ausschließlich eine Rückenfreihalterin. Das war sie auch, aber eben auch eine Mitarbeiterin und unabdingbare Lebenshilfe. Darüber ließe sich freilich trefflich disputieren. Bin mir selbst noch nicht im Klaren.)
Beste Grüsse,
Lena
Die Begeisterung ist spürbar, eine feine Besprechung, die auch eine gewisse Schnöseligkeit Schmidts nicht unerwähnt lässt. Macht Lust, die Tagebücher zu erwerben – es scheint mir einmal mehr der Fall einer Frau zu sein, ohne die das männliche Schaffen nur schwer möglich geworden wäre, die aber im Konzept des Gesamtkunstwerkes AS dann doch meistens unerwähnt bleibt. Danke für den Tipp!
Liebe Birgit,
spätestens seit dem Erscheinen der Tagebücher wird es klar, dass das Schmidtsche Gesamtkunstwerk ohne Alice Schmidt schlichtweg nicht denkbar ist. Ihre Leistung hierfür ist enorm. Wir sollten nicht den Fehler machen, ihr Leben nach heutigen Emanzipationsmaßtäben zu messen. Du hast schon recht, auch ich erinnere mich noch an die Verwunderung, wie Arno Schmidt mit so einer einfachen Frau leben konnte. Das ist heuchlerischer Quatsch. Schön, dass wir es heute besser wissen.
Liebe Grüsse!
Danke für die Besprechung. Das Buch ist als Wunsch schon notiert…
Das freut mich wirklich sehr! Gern geschehen!
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Liebe Lena,
ich liebe es schon immer, Tagebücher zu lesen. 🙂
Danke für den guten Tipp!
Regnerische Grüße aus dem Bergischen Land…
von Rosie
Liebe Rosie,
gern geschehen. Könnte dir gefallen, zumal es im Anhang auch noch Graphisches gibt.
Grad habe ich deinen tollen Bericht aus Tallin gelesen.
Grüsse aus der Mittagspause, 27°C und Sonne und ein bisschen Wind,
alles Liebe,
Lena
Hach ja. Diese Memoiren der „Sidekicks“ aber auch immer. Schmidt selber hat sich ja mal zu der Äußerung hinreisen lassen, man solle das Werk würdigen und „den kläglichen Rest“ der Autorenexistenz vergessen.
Er war vermutlich Träger sämtlicher Syndrome, die man heute kennt bzw. erfunden hat,vom Soziophobiker bis hin zum Autisten. So hatte er genug Zeit und Veranlagung, den „Dingen auf den Grund“ zu gehen.
Dass er bei DEM Charakter überhaupt eine Frau fand, die es nochdazu ein Leben lang mit ihm aushielt, ist vielleicht das größte Wunder seines Werdegangs.
Dass er die NS-Zeit so kurz nach dem Krieg nicht reflektiert ist normal. Umgeben von all den Flucht- und Plündergeschichten siehst du zu, wie du selber über die Runden kommst.
Ob ich die Hinterlassenschaften seiner Frau nu lesen will oder nicht – weiß ich noch nicht.
Habe gerade sowas ähnliches durch: Erwin Strittmatter, der Literatur-Guru der Selbstdenker der DDR hatte, wie sich nun nach ähnlichen Alltagsenthüllungen seitens mehrerer Familienmitglieder ebenfalls ein scheinbar blamabel dysfunktionables Familienleben. Witwe, Sohn(einer von 7) und Enkelin schrieben bisher. Wenn man sowas einmal in der Hand hat, legt man es nicht weg. Andererseits liest man es kopfschüttelnd hinundher gerissen: Es zeigt zum wiederholten Male, dass vor allem Dichter(mehr noch als Musiker, so scheint mir inzwischen) wirklich lebensunkundige und nicht vermittelbare Zeitgenossen sind, die aber ihr Ersatzleben in ihrer Kunst ausleben – in einer Art und Weise , die uns massenkompatibleren Sonderlingen das Dasein erhellt.
Der Preis für „große Kunst“ ist die private Kotzbrockenhaftigkeit. Will ich das in jedem Einzelfall wirklich wissen? Goethe, Strittmatter, Hesse – das reicht eigentlich. Schmidt-Entlarvungen braucht es da nicht mehr. Wer privat gut klar kommt, mit Small Talk in der Umkleidekabine seines Handballvereins und bissl Osterfeuer-Klatsch „intellektuell“ zufrieden gestellt werden kann, der schreibt keine Bücher.
Danke für deinen ausführlichen Kommentar Bludgeon.
»Wer privat gut klar kommt, mit Small Talk in der Umkleidekabine seines Handballvereins und bissl Osterfeuer-Klatsch „intellektuell“ zufrieden gestellt werden kann, der schreibt keine Bücher« – Da wirst wohl schon recht haben.
Was bliebe also noch zu sagen? Also vielleicht, dass man bei der Lektüre der Tagebücher entdeckt, wieviel Kram aus dem Alltagsgeschehen Arno Schmidt in seine Bücher gepackt hat? Nein? Auch kein zureichender Grund? Nun gut, man muss die Tagebücher ja auch nicht lesen.
Beste Grüße!