Diane Oliver – Nachbarn

Aufbau Verlag 2024, 304 S., Übersetzung aus dem Amerikanischen: Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg, ISBN: 978-3-351-04224-0, auch als E-Book erhältlich.

Dass ich einen Band von Erzählungen von der ersten bis zur letzten Geschichte mit Interesse durchlese, kommt nicht allzu oft vor. Bei Diane Olivers ›Nachbarn‹ ist das geschehen. Das Buch kam in diesem Jahr heraus und ist eine Besonderheit. Die Autorin Diane Oliver wurde 1943 in Charlotte, North Carolina geboren und verstarb mit 22 Jahren bei einem Verkehrsunfall. Bis zu ihrem frühen Tod 1966 waren vier ihrer Kurzgeschichten veröffentlicht. Sie galt als großes Talent und geriet dann in Vergessenheit, bis sie jetzt wiederentdeckt wurde. Diane Olivier wuchs in einer afroamerikanischen Mittelschicht Familie auf und so waren ihre Themen besonders stark vom Leben mit und dem Aufbegehren gegen die herrschende Segregation geprägt. Dies sind Themen des Buches, doch ist es die erzählerische Perspektive, die diese 14 Geschichten noch heute so außergewöhnlich gut lesbar macht .

Die Erzählungen handeln in der Mehrzahl von auf sich gestellten Frauen, Schülerinnen und Schüler und abwesenden Vätern. Diane Oliver probiert sich aus, variiert ihre Themen und sprachlichen Mittel. In dem titelgebenden ›Nachbarn‹ werden die Geschehnisse und Diskussionen in einer Familie erzählt, deren Sohn am nächsten Tag in die erste Klasse einer bis dahin für Weiße vorbehaltenen Schule gehen soll. Der immense Stress der ganzen Familie ist hier erlebbar: Was ist richtig, was falsch, darf man das eigene Kind dem Hass des weißen Mobs aussetzen? Natürlich denken wir sofort an die mutige Ruby Bridges und das berühmte Bild, auf dem sie von Polizisten begleitet die Schultreppen hinuntergeht. Das, was in diesem ikonischen Bild nicht erzählt wird, erzählt Diane Oliver. In der nächsten Geschichte wird die junge Winifred an einem solchem Druck zerbrechen. Psychisch beschädigt verlässt sie das College, auf dessen Besuch die Eltern so viel Hoffnung gesetzt haben. Das Mobbing hat gesiegt und das Ende ist ein persönliches Desaster.

In ›Banago kalt‹ finden wir uns plötzlich in der Schweiz wieder: Millie befindet sich in einem Family-Friends-Experiment, sie ist eine Art Vorzeige-Schwarze. Es kommt zu aberwitzigen bis bedenklichen Szenen. Ausgewachsener Grusel dann am Ende von ›Kein Service hier‹. Und immer wieder bevölkern allein erziehende Frauen die Erzählungen, vergeblich mit ihren Kindern in überfüllten Wartezimmern sitzend oder sich als Haushaltshilfe bei ignoranten weißen Damen verdingend. Was mir an den Stories besonders gut gefällt ist, dass Oliver mit ihrem zurückgenommen, fast lapidaren Erzählstil, der vollkommen frei von jedem Lamento ist, die beste Wirkung erreicht. Die Schlusspointen haben es nicht selten in sich. Das Politische, das bei diesen Geschichten immer anwesend ist, wird durch Olivers Erzählen zum Privaten, zum innerlich Erlebten. Und so wird diese Prosa, die sich aus erlebter Wirklichkeit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und dem Alltag der afroamerikanischen Bevölkerung speist, zu einer bis heute relevanten Literatur. Anders gesagt: Das hier Erzählte ist keineswegs erledigt. Und das ist erstaunlich und faszinierend zugleich, zumal diese Autorin noch so jung war, als sie diese Geschichte schrieb. Ein enormes Talent.

Nun will ich in die Lobeshymnen, die Marketing und Feuilletons über Diane Olivers ›Nachbarn‹ singen, nicht zu sehr einstimmen, sondern möchte kaum weniger bescheiden jeder und jedem dieses Buch ans Herz legen. Was mich betrifft, wird ›Nachbarn‹ in Reichweite bleiben, um die ein oder andere Geschichte in aller Ruhe erneut zu lesen.

In meinem Kalender gab es vorgestern ein Zitat von Novalis zu lesen, das mir auch auf diesen Erzählband zu treffen scheint: »In einer guten Erzählung ist etwas Heimliches, etwas Unbegreifliches. Die Geschichte scheint noch uneröffnete Augen in uns zu berühren – und wir stehn in einer ganz andern Welt, wenn wir aus ihrem Gebiete zurückkommen.«

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