Limmat Verlag Zürich 2023, 192 S., übersetzt und mit einem Nachwort von Steven Wyss, ISBN: 978-3-03926-055-3, auch als E-Book erhältlich.
Was muss man zu diesem Roman wissen, der zurzeit als »Klimaroman der Stunde« gefeiert wird? Der Autor C. F. Ramuz wurde 1878 in Lausanne geboren und verstarb 1947 in Pully bei Lausanne. Der Dichter gehört heute zu den bedeutenden Schweizer Autoren französischer Sprache und war auch als Lyriker und Essayist produktiv. Vielleicht wird der eine oder die andere »Deborence« kennen, ein Roman, der sich auf einen Bergsturz gründet und wie die allermeisten Romane Ramuz‘ im bäuerlichen Umfeld spielt? So auch »Sturz in die Sonne« das im Original »Présence de la mort« heißt. Dem wunderbar konzentrierten Nachwort des Übersetzers Steven Wyss kann man entnehmen, dass sich die neue Übersetzung im Limmat Verlag auf die gekürzte Fassung von 1941 bezieht (die Originalausgabe ist von 1922) und der jetzige Titel auf einen Arbeitstitel Ramuz‘ sich stützt.
Worum geht es in diesen 176 Seiten? Nun, vordergründig um nicht mehr und nicht weniger als den Untergang dieser Welt. Erlebt wird dieses größtmögliche Fiasko von einfachen Leuten und Bauern am Genfer See. Die Schreckensnachricht wird im ersten von dreißig Kapiteln kundgetan: Es gibt einen Gravitationsfehler und die Erde stürzt mit rasanter Geschwindigkeit in die Sonne. So weit die Ursache für den Schlamassel und mehr wird auch später nicht erklärt. (Wie kam Ramuz auf solch ein Szenario? Der Ursprung liegt wohl in Genf im Jahr 1921, als dort ein Jahrhundertsommer registriert wurde.) Und in den nächsten dreißig Kapiteln werden Stationen dieses Desasters erzählt, von der anfänglichen Ignoranz, dem Verfall von Sitte und Ordnung, staatlichen Übergriffen, Mord und Raub, der Flucht auf die Berge. Dabei steht jedes Kapitel für sich, sowohl was das handelnde Personal, als auch was den Stil des Autors betrifft. Es gibt keine Helden, die sich durch die Handlung ziehen. Hier und da gibt es einen Ich-Erzähler, aber nicht immer. Mal ist ein Kapitel in weihevollem Tonfall gehalten, dann wird es expressionistisch, dann sind es nicht mehr als abgebrochene Sätze von Unterhaltungen. Ramuz wurde vorgeworfen, dass er schlechtes Französisch schrieb, doch ihm ging es um Ton, um Form, um Rhythmus der Sprache. Auch und grad dieser literarischen Mittel wegen wirkt dieser kurze Roman sehr modern. Man bedenke, dass der Text zuerst 1922 und dann wieder 1941 gelesen wurde!
Für wen also ist dieses Buch etwas? Diejenigen, die einen Pagetuner über ein Katastrophenszenario erwarten, sind hier komplett falsch. Dazu ist dieser Text einfach zu anspruchsvoll. Er macht nämlich durchaus auch Mühe. Es geht hier nicht um Wissenschaftsvermittlung, um einen erhobenen Zeigefinger oder Science Fiction. Es geht hier, so wie ich den Roman lese, um die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens angesichts der größtmöglichen Katastrophe, was eben auch besondere literarische Mittel erfordert. Wer sich also auf dieses Buch einlässt, nicht immer gleich alles verstehen muss, die Poesie eines Textes bestaunen kann, der wird hier reich beschenkt.
Ich mag nicht verschweigen, dass mich dieser Text getroffen hat. Immer wieder der Satz, dass jeder Mensch für sich stirbt. Der Mensch dreht sich zur Wand, wenn er stirbt, nur dass hier niemand im Bett das Zeitliche segnet. Gut, dass der Limmat Verlag in Zürich diese besondere Kostbarkeit neu aufgelegt und dass dieser Text mit Steven Wyss einen profunden (soweit ich das beurteilen kann) Übersetzer gefunden hat. Das Nachwort des Übersetzers teilt in zehn Seiten alles mit, was man für das Verständnis von »Sturz in die Sonne« benötigt. Der Rest liegt an uns Leser und Leserinnen.
Und ganz am Schluss ein Dank an Paul Hübscher, der mir in seinem Blog ›litteratur.ch‹ immer wieder solche Schmankerl vor die Nase hält.
Hallo Lena
Gern geschehen! Jederzeit wieder. 🙂
Gruss
Paul
Freue mich sehr.
Sonnige Grüße in die Schweiz!
Oh….das ist wieder einmal ein ganz besonderer und spannender Literaturtip, liebe Lena! So manches Mal staune ich über die literarischen Schätze, die sich, weil schon vor langer Zeit erschienen und fast dem Vergessen anheim gefallen, als funkelnde Kostbarkeiten entpuppen.
Dieses Werk scheint ein solches zu sein.
Dankeschön!
Sehr gern, Rosie, und Dank für Deinen Kommentar.
Aber Obacht: Ein Pagetuner ist das nicht grad, macht ein wenig Mühe, aber dann wird man belohnt. Und bei über 30°C oder ausgefallener Klimaanlage im ICC sollte man das vielleicht nicht lesen. 😉
Liebe Grüsse!