Christina Wessely: Löwenbaby

Matthes & Seitz, Berlin 2019, 90 Seiten, ISBN: 978-3-95757-716-0, auch als E-Book erhältlich.

LeserInnen meines Blogs wissen: Ich höre Podcasts, vor allem solche, die über Literatur sprechen. Oder aber welche, die außergewöhnliche, interessante Interviews zu Gehör bringen. »Durch die Gegend« mit Host Christian Möller habe ich vor nicht allzu langer Zeit hier vorgestellt. Herr Möller macht aber auch noch andere Sachen. Zum Beispiel stellt er als einer von mehreren ModeratorInnen Bücher zu bestimmten Themen in der WDR3 Sendung »Gutenbergs Welt« vor. Mitte April hieß das Thema »Im Tierreich« und eines der besprochenen Bücher hieß »Löwenbaby« von Christina Wessely. Ein schmales Bändchen, das eine Art kleine Kulturgeschichte der Menschen-mit-Löwenbabys Fotografie darstellt. »Wer schreibt denn über so etwas? Braucht es das auch noch?«, möchte man da ausrufen. Nun, die in Wien geborene Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Christina Wessely hatte mein Interesse mit diesem Buch sofort geweckt. Und das hat einen Grund.

Auch ich habe ein inzwischen digitalisiertes Fotografie von Menschen mit Löwenbaby: Vier Jungs, flachsblond, mit kurzen Hosen und Jägeranzügen mit Eichenlauf auf den Revers und Hirschhornknöpfen bekleidet sitzen auf einer Bank. Über ihren Schössen fläzt ein Löwenbaby und schaut ziemlich derangiert. Nach der Lektüre des Buchs weiß ich, dass das Tier wohl zugedröhnt, sediert war. Rechts mein früh verstorbener Vater, links von ihm seine älteren Brüder. Später habe ich in Erfahrung gebracht, dass das Bild Anfang der 1940er Jahre im Zoologischen Garten in Berlin gemacht worden ist. Und so hat mich die Arbeit von Frau Wessely sofort neugierig gemacht.

Das Buch »Ereignisfoto mit Löwenbaby« beginnt mit dem Ereignisfoto der Autorin: Sie als Kind mit ihrem Vater und einem Löwenbaby vor einer Fototapete im Safaripark Gänserndorf bei Wien. Man schreibt das Jahr 1982, also etwa 40 Jahre nach dem Foto, welches ich als digitale Kopie besitze. Die Autorin beschreibt den Ort bei den Großeltern, an dem das Foto fast unsichtbar seinen ständigen Ausstellungsplatz gefunden hatte. Und als Leserin schmunzle ich noch und stoße einige »Ja, genau so wars auch bei mir!« aus, da geht der wilde Kulturritt schon los: Man lernt den Unterschied von Ereignis und Erlebnis und was die Fotografie damit zu tun hat, trifft mal wieder auf unseren lieben Freund Herrn Grzimek, auf Feldmarschall Göring und seine Löwenmanie, lernt über Halbwertzeit von jungen Löwen, über das Verhältnis von Mensch zu Tier und Mensch zu Mensch, über Herrschaft und Quälerei und die Versuche menschlicher Tierhaltung. Zwar werden nicht selten Geistesgrößen wie Walter Benjamin, Horkheimer, Adorno oder John Berger zitiert, aber der Text wirkt keineswegs verwissenschaftlicht, denn Frau Wessely kann wirklich schreiben. Und wenn man ab und an einen Satz zweimal lesen muss, um ihn zu verstehen, schadet das ja auch nichts. Angereichert wird die kleine, sehr spannende Abhandlung mit reichlich Fotomaterial: Lauter heute doch recht befremdlich wirkende Fotos mit Mensch und Tier vor Tapete. 

Also ran an die Fotokisten von Eltern und Großeltern. Vielleicht findet sich ja was? Und anschließend eine zum Nachdenken anregende Lektüre. Man muss sich dabei nicht zwingend fotografieren lassen.


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