
Es ist immer zu viel los und die benötigten Pausen (= einfach nur blöd schauen) werden mit zunehmenden Alter länger. Deshalb erst jetzt der Rückblick auf meinen ersten Lesemonat im neuen Jahr. (Ein wenig Gitarre habe ich übrigens wieder gespielt, was sehr erfreulich ist, denn die olle Schulter scheint wieder mitzumachen.) Aber bleibe ich bei den Büchern: Die erste Lektüre dieses Jahr war ›Mario und der Zauberer‹ von Thomas Mann. Kennt man natürlich, aber vielleicht ist es schon länger her, dass die Novelle gelesen wurde. Dann schreiben ja alle Zeitungen von Wolf Haas und seinem neuen raffinierten Roman ›Wackelkontakt‹. Natürlich war ich ein Fan von Brenner, warum also nicht zu dem gelben Buch mit dem unscharfen Cover greifen? Last but not least sollte es ein Krimi sein. Oder vielleicht doch eher ein Roman? ›Die Aosawa Morde‹ von Riku Onda.
Der alte Cipolla zaubert noch
Die 1930 erschienene Erzählung von Thomas Mann fängt denkbar harmlos an: Eine offensichtlich wohlhabende deutsche Familie macht Urlaub an der ligurischen Küste. Der Erzähler beschreibt, was eben zu beschreiben ist, und die Leserin denkt noch: Siehste, Du musst ja nicht in den Urlaub fahren, hier kriegst Du Landschaft, Meer und Bella Italia frei Haus. Doch schnell wird eine ungute Stimmung spürbar, Ressentiments gegen die Familie deuten sich bei Nichtigkeiten an: Die kleine Tochter läuft nackt den Strand entlang, was plötzlich die italienische Würde verletzt. Es hilft nichts, die Familie muss das Hotel wechseln. Der Grund für diese Gereiztheit wird kenntlich gemacht: In Italien herrscht nun der Faschismus.
Der zweite Teil der Novelle spielt in einem Varieté. Ein enorm hässlicher Zauberer namens Cipolla führt Kunststückchen vor. Und während ich mich bei der genauen Beschreibung der Tricks zu langweilen beginne, wird das Szenario immer unheimlicher: Cipolla entpuppt sich als ein Hypnotiseur. Je mehr dieser sein Publikum verführt, desto mehr fragt sich der Vater der Urlauberfamilie, ob er nicht gehen sollte, denn die Kinder sind ja dabei, aber er bleibt bis zum Schluss, weil er abgestossen und fasziniert zugleich ist. Als Cipolla schließlich den Kellner Mario auf der Bühne demütigt, kommt es zu einer Katastrophe.
Diese Geschichte wirkt bis heute: Der aufkeimende Faschismus, die große Gereiztheit, die subtile Bedrohung, die Verführung … man könnte meinen, dass ein Text nicht viel aktueller sein kann. Und alles großartig erzählt.
Escher und Puzzles
In Wolf Haas ›Wackelkontakt‹ geht es erst einmal um Franz Escher: Escher ist etwa fünfzig Jahre alt, lebt allein in Wien, puzzelt gern und liest Romane über die Mafia, warum auch nicht. Nun hat seine Steckdose in der Küche einen Wackelkontakt und er ruft einen Elektriker, der bedauerlicherweise an einem tödlichen Stromschlag verstirbt. In jeder erdenklichen Pause (warten auf den Elektriker, warten auf die Sanitäter und so fort) wird Escher in seinem Buch über Elio Russo, der in einem Zeugenschutzprogramm steckt, da er Mafiosi verraten hat, lesen. Auch der Russo aus dem Roman liest viel in seinen Pausen: Ein Buch über eben diesen Escher. Man liest sich quasi gegenseitig. Und mehr möchte ich jetzt nicht verraten. Beide Lektüren wechseln im Text absatzlos hin und her, ohne dass es für uns Lesenden allzu verwirrend wird. Eine hübsche Idee, oder?
Während mir bei den ersten hundert Seiten trotz der interessanten Idee das Lesen ein wenig fad war, nimmt der Plot in der zweiten Hälfte deutlich an Fahrt auf. Allerdings bleiben die Figuren für mein Empfinden ein wenig zu flach, das Buch lebt von der Idee des sich Spiegelns und der daraus entstehenden Verschränkungen und logischen Fragestellungen: Ein ziemliches Kopfding doch. Ich habe mich gut unterhalten, das schon, aber die Begeisterung oder gar Euphorie des Feuilletons teile ich nicht. Den Schluß habe ich übrigens nicht komplett verstanden, aber das macht dann auch nichts.
So viele Stimmen
Anfang der 1970er Jahre in einer japanischen Küstenstadt: Auf äußerst grausame Weise sterben auf einer Geburtstagsfeier der reichen Arztfamilie Aosawa siebzehn Menschen. Nur die blinde Tochter Hisako Aosawa überlebt. Die mit ihr befreundete Makiko Saiga interviewt gute zehn Jahre später Zeitzeugen über dieses entsetzliche Geschehen, woraus über Umwege ein überraschender Bucherfolg werden wird. Makiko Saiga ist neben dem Polizisten Teru, der mit dem Fall betraut war, eine der Hauptfiguren. Und es gibt noch eine Ebene: Eine weitere Befragung Anfang der 2000er Jahren. Auch diese Berichte lesen wir. Viele Schichten und wirklich viele Stimmen und immer ist es viel zu heiß.
Es bedarf ein wenig Anstrengung, um gewahr zu bleiben, wann und wo man sich innerhalb der Handlung befindet. Gegen Ende wird es dann einigermaßen mystisch, Blumen (die schon zu Beginn erwähnt werden) und blaue Räume spielen eine Rolle. Das Buch hat so seine Tücken: Das Ende der Handlung scheint sich ein wenig in geheimnisvollen Nebel zu retten und es wird deutlich, dass ich als nicht japanische Leserin viele Anspielungen nicht verstehe. Dazu ist die Übersetzung hier und da auffallend holprig. Mir war das allerdings egal: Ich habe den Roman sehr gern gelesen und empfehle ihn jeden, der am Ende nicht unbedingt den Täter oder die Täterin präsentiert haben muss. Die Figuren haben Tiefe, sie sind in ihren Beschädigungen fühlbar und die Konstruktion mit der Vielstimmigkeit der Erzählung ist gelungen. Von mir eine klare Empfehlung.
Meine Ausgaben:
Thomas Mann: Späte Erzählungen 1919-1953, S. 212-272, S.Fischer 2021.
Wolf Haas: Wackelkontakt, 240 S., Hanser 2025.
Riku Onda: Die Aosawa Morde, übersetzt von Nora Bartels, 400 S., Atrium 2022, Taschenbuch 2024.