Ullstein 2017, 240 Seiten, übersetzt von Kirsten Brand, ISBN-13 9783550081606, auch als eBook erhältlich.
Wenn man will, kann man die zwölf Erzählungen, die mit dem verstörenden „Der schmutzige Junge” beginnen und dem titelgebenden, schier unerträglichen bedrückenden „Was wir im Feuer verloren” enden, als eine Sammlung von nahezu perfekt komponierten Horrorgeschichten ansehen. Es ist alles, was das Genre fordert, vorhanden: psychotische Menschen, grausame Geschehnisse, überraschende Wendungen und Schockmomente. Die Schlussakkorde der Geschichten sind fast immer stimmig, nichts was Liebhaber des Grauens vermissen werden. „Was wir im Feuer verloren” ist den Romanen und Erzählungen eines Lovecrafts, Borges oder McCarthys durchaus ebenbürtig. Doch Mariana Enriquez Band ragt über das Genre noch hinaus, bedient sich sozusagen der Schreckensgeschichten als Folie, um auch noch eine ganz andere Geschichte zu erzählen: Die von den verlorenen Generationen Argentiniens. Und sie erzählt modern, mit herausragendem sprachlichen Talent, Lob an dieser Stelle auch der Übersetzerin Kirsten Brand, und sie erzählt aus weiblicher Perspektive.
Gehört habe ich von der 1973 in Buenos Aires geborenen Mariana Enriquez das erste Mal in einer Sendung des Bücherdiwans, einer wöchentlichen Büchersendung des Bayerischen Rundfunks. Ausdrücklichen Dank für diese Empfehlung. Wenn man der Rezensentin Glauben schenkt, ist „Was wir im Feuer verloren” Enriquez zehntes Buch. An deutschen Übersetzungen habe ich zwei weitere gefunden: Einen Erzählband von 2013 „Als wir mit den Toten sprachen” und den 2010 in deutscher Sprache erschienen Roman „Verschwinden”. Allzu bekannt ist Mariana Enriquez hierzulande (noch?) nicht.
In der ersten Erzählung, dem bereits erwähnten „Ein schmutziger Junge” lebt die Erzählerin in einer alten, sich im Familienbesitz befindlichen Stadtvilla in dem nun heruntergekommen Viertel Constitución. Hier zu leben schickt sich eigentlich nicht: Wer kann, zieht weg. Die Erzählerin ist aber der Auffassung, daß ein Leben zwischen all den Abgehängten, Außenseitern und Kriminellen durchaus seinen Reiz hat und daß man, befolgt man nur ein paar Regeln, durchaus mit Gewinn sein Leben hier fristen kann.
Ich mag dieses Viertel. Niemand versteht, warum. Ich schon: Hier fühle ich mich scharfsichtig, wagemutig und hellwach.
Sie trifft auf den etwa fünfjährigen Sohn einer drogenabhängigen Mutter, der mit Heiligenbilder Geld erbettelt. Der Schmutz, schlechte Geruch und die finstere Miene scheinen zu seiner Masche zu gehören. Eine Art von spezieller Freundschaft zwischen dem Jungen und der Erzählerin bahnt sich an, doch dann geschieht ein grausamer Mord an einem Kind und der Junge verschwindet.
In „Der schmutzige Junge” sind die Themen der Erzählungen bereits angelegt: Häuser mit einer langen, ehemals ruhmreichen Geschichte, böse Träume, eine Gesellschaft ohne Hoffnung, gescheiterte Existenzen, Hoffnungslosigkeit, der Kampf ums tägliche Überleben, Gewalt und Drogen neben Mythen und Heiligen und immer wieder das Verschwinden. Ein vielversprechender Eingang in den Kosmos von Mariana Enriquez Werk. Und das Versprechen wird gehalten. Mit überragenden sprachlichen Mitteln erzählt die Autorin von Geschichtsvergessenheit und Schweigen eines ganzen Landes und von der bleiernen Lähmung, die dieses Verhalten erzeugt. Argentinien, ein Land das an seiner Geschichte erstickt, überall Geister, Untote und zombiegleichen Wesen. Was ist hier Traum, was Wirklichkeit?
Paula wollte wegrennen, aber wie in einem Alptraum waren ihre Beine bleischwer, sie konnte sich nicht umdrehen, ihr Körper weigerte sich, sich umzudrehen, etwas hielt sie an der Zimmertür fest. Aber es war kein Traum. Im Traum spürt man keine Schmerzen.
Die „Folie” Horror sorgt dafür, daß dies alles nicht zu einer einzig depressiven Veranstaltung wird. Es ist immer spannend, aufwühlend und man kann „Wer durchs Feuer ging” auch als reinen Pagetuner lesen. Angefasst wird man von diesen Geschichten in jedem Fall. Mein Fazit: Eines der besten Erzählbände, die ich seit langer Zeit gelesen haben. Eine unbedingte Leseempfehlung. Sensiblen Gemütern rate ich allerdings, die letzte Erzählung vielleicht doch auszulassen, auch wenn es die Titel gebende ist. Ich gebe zu, selbst mir war das fast ein wenig zu viel.
Anmerkung zum eBook:
Noch eine dringende Bitte an den Verlag, der hier leider stellvertretend für so viele steht. Unterlasst es doch bitte, in euren eBooks Seitenränder in den Stylesheet einzuschreiben. eBooks werden in Readern gelesen, die von Haus aus eine Seitenrandformatierung vorgeben. Schmaler Seitenrand des Readers plus Mindestseitenrand des eBooks ergeben einen aufgezwungen breiten Seitenrand und damit schmalen Lesekomfort für den Lesen und die Leserin. Und es gibt durchaus noch um Einiges krasserer Beispiele als dieses. Vollkommen unnötig und ein echtes Ärgernis.
Schmalste Seitenrandeinstellung bei mittlerer Schriftgröße in einem Tolino-Lesegerät.
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