Meine persönliche Parallelaktion

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Robert Musil Gesamtausgabe, Jung und Jung 2016-2022, 12 Bände, herausgegeben von Walter Fanta. Apparat und Kommentare auf www.musilonline.at. Weitere interessante Links am Ende dieses Textes.

Musil also, Der Mann ohne Eigenschaften, MoE. Zum wievielten Mal eigentlich? Immer wieder Auszüge, Strecken, Abbrüche, fast vollständig das geniale „Der Mann ohne Eigenschaften.Remix” von 2004 gehört. Dieser immer aktuelle und unzeitgemäße Roman, 1930 wird das erste Buch, dessen Handlung unmittelbar vor Ausbruch des 1. Weltkrieges spielt, herausgegeben, begleitet mich mein Leben lang. Robert Musil, der Zweifler und Unentschlossene, wurde aus wirtschaftlichen und gesundheitlichen Gründen daran gehindert, diesen Roman zu Ende zu schreiben. Man könnte auch sagen: Musil scheiterte an diesem Roman. Es gibt ein erstes Buch mit zwei Teilen. Und zwei Jahre später, 1932, wurde der erste Teil des zweiten Buches veröffentlicht. Der Rest sind mehr oder weniger fertig ausgearbeitete Fortsetzungen aus dem Nachlass. 

Zur Rahmenhandlung des MoE: Im kurzen, gut hundert Seiten langen ersten Teil „Eine Art Einleitung” wird Ulrich, eine Art Alter Ego Musils, vorgestellt. Ein talentierter junger Mann, der zu einem bedeutenden Menschen werden möchte, sucht nach möglichen Wegen dorthin. Schwierig, wenn neuerdings schon Rennpferden ein Genie zugeschrieben wird. Es werden erste Figuren des Romans vorgestellt und der erste Teil endet damit, dass Ulrich, um endlich auch etwas Vernünftiges zu tun, vom Vater angehalten wird, an der Parallelaktion mitzuwirken: Das bevorstehende 70. Thronjubiläum Kaiser Franz Josephs soll mit dem gleichzeitig 1918 stattfindenden 30. Thronjubiläum Kaiser Wilhelms II. mithalten können. Schon in dieser langen Einleitung wird die Konzeption Musils deutlich: Eine Ansammlung von Essays über Wissenschaft, Philosophie, Vernunft und Gefühl, die Widersprüchlichkeiten der modernen Gesellschaft, wir befinden uns im Jahr 1913 und aller Wahrscheinlichkeit in Wien, verpackt in eine Handlung, die zum Teil absurd ist, durchaus spannende Momente hat und von bemerkenswerten Persönlichkeiten bestimmt wird. Die Sprache: Nüchtern, souveräne Eleganz und unschlagbare Ironie. Musil zu lesen bedeutet für mich Konzentration und großes Vergnügen.

Bei „Jung Und JUNG” gibt Walter Fanta nun die neue „Musil Gesamtausgabe in zwölf Bänden” heraus. Die ersten Bände erschienen bereits 2016, die letzten sind für 2022 geplant. Aktuell wird Band 4 im September erwartet. Der MoE wird 6 Bände, also genau die Hälfte der Gesamtausgabe einnehmen. Kurz zusammengefasst die Idee hinter diesem Projekt: Es soll der ganze Musil in einer möglichst leserfreundlichen Edition präsentiert werden. Die Nachlassversionen werden als abgeschlossene Teile präsentiert. Anwendung findet hierbei das Prinzip der „Ausgabe letzter Hand”, wichtiges Hilfsmittel hierbei das Handexemplar Robert Musils. Walter Fanta nennt sein Konzept eine Hybridedition. Warum? Nun, der gesamte literaturwissenschaftliche Apparat ist auf musilonline.at verfügbar, während die Bücher reine Leseexemplare sind. Ich empfehle das Interview mit Walter Fanta auf Bayern2, um mehr über diese spannende Edition zu erfahren.

Die Ausgaben bei „Jung Und Jung” sind zugegebener recht teuer. Der Fan wird zwar zweimal im Jahr um die 35 Euro investieren wollen, für Menschen, die Musils MoE neu entdecken wollen, tut es anfangs auch die Rowohltausgabe, die es als Taschenbuch und eBook gibt. Bis zum ersten Teil des zweiten Buches gibt es keine wirklich gravierenden Unterschiede im Text. Ein wunderbarer Einstieg in die Sprachwelt Robert Musils wäre auch der „Der Mann ohne Eigenschaften.Remix”. Man kann sich Episoden von der Webseite von Bayern2 herunterladen und auf diese Weise in die Welt Kakaniens eintauchen.

Ich für meinen Teil habe wieder Feuer gefangen: Diesmal möchte ich den MoE von vorn bis hinten und in allen Variationen lesen. Zu diesem Behufe bleibt der Reader mal in seinem Sleeve und der lindgrüne Ziegelstein wird zur Hand genommen. Ich bin erstaunt, dass das von Walter Fanta verkündete Konzept einer möglichst leserfreundlichen Ausgabe so gut greift: Die relativ breiten Seitenränder bei großer Schrift hatten mich anfangs skeptisch gemacht, aber ich wurde eines besseren belehrt. Selbst ohne Brille ist das Lesen unangestrengt möglich und die naturgemäß reduzierte Zeilenlänge stört nicht. Das Entscheidende aber:  Mit fortgeschrittenem Alter begeistern mich Sprache und Stil Musils immer mehr. Die Liebe zum Mann ohne Eigenschaften ist neu entbrannt. Und zum gedruckten Buch ebenfalls. Wichtig zu sagen: Auf Kosten des digitalen Buches soll das nicht gehen. Beide Lesarten können gut nebeneinander existieren, zumindest in meiner Bücherwelt

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Und so komme ich zum zweiten Teil meiner persönlichen Parallelaktion, denn nicht nur die Musil-Lektüre wird die nächsten Monate meine Existenz mit Büchern bestimmen: Franz Kafkas „Sämtliche Werke” war das erste eBook, das ich, damals noch von Amazon, erworben habe. Das war 2011, 2015 dann folgte der Umstieg auf ePubs, da mir das Kindle Konzept nicht mehr passte. Seit sechs Jahren also kaufe ich im Zweifelsfall elektronische Bücher. Der erste Grund hierfür war eine immer unübersichtlicher werdende Bibliothek, in der Bücher finden zum Glücksfall wurde. Ich lese viel, ich kaufe noch viel mehr. Ein Umstand, der keine Ecke meiner 50 m² Wohnfläche unberührt lässt. Allerdings: Eine grundsätzliche Lösung meines Problems war das elektronische Buch nicht. Die gebundenen Bücher bleiben ja und nicht alles ist im elektronischen Format zu bekommen. Die Bibliothek wächst also trotzdem, wenn auch längst nicht mehr so schnell. Was tun? Bücher loszuwerden ist in vielfacher Hinsicht schwer. Der Berg, vor dem ich stehe, ist im wahrsten Sinne des Wortes riesig und war es wert, über Jahre nicht angegangen zu werden. Die Aufgabe aber blieb. Und hier kommt die neue Musil-Ausgabe ins Spiel: Ich liebe die Sprache Musils, finde das hybride Konzept des Herausgebers Walter Fantas hochinteressant, die Edition ästhetisch wunderschön. Aber wo ein angemessenes Plätzchen für einen meiner Lieblingsautoren finden? Letztlich war also diese geplante Gesamtausgabe der Anlass, die ersten Schritte einer langen Reise zu gehen. Ein bis zwei Jahre habe ich mir gegeben, meine Bibliothek nach und nach und äußerst gründlich zu entschlacken.

Die Probleme, die hierbei entstehen, sind vielen BücherfreundInnen bekannt:

  • Ich habe so gut wie keine „Schundliteratur”, die Entscheidung zur Entsorgung ist jedes Mal schwierig.
  • Auf Menschen zu treffen, die einem Bücher in größeren Mengen abnehmen, ist nicht leicht.
  • Die bekannten Stellen, die Bücher abnehmen und für gute Zwecke weiterkaufen, leiden fast immer selbst an akuter Platznot.
  • Ich will nicht zwanzig Bücher loswerden, auch nicht einhundert. Letztlich geht es um Minimum eintausend Bände, wahrscheinlich um Einiges mehr.

Folgende Regeln habe ich mir auferlegt:

  • Bücher mit kleiner bis sehr kleiner Schrift werden grundsätzlich entsorgt. Ich will so Bücher nicht mehr lesen müssen.
  • Bücher in schlechtem Zustand werden entsorgt.
  • Bücher, die mir auch als eBook zur Verfügung stehen, werden entsorgt.
  • Bücher, die, weil sie einst angesagt waren, gekauft, aber nie gelesen wurden, werden entsorgt. Die Leselebenszeit eines werktätigen Menschen ist kürzer, als man gemeinhin denkt.
  • Bücher, deren Autoren einst interessant waren, von denen ich aber später vollständig Abstand genommen habe, werden entsorgt. Kein Platz für Sentimentalitäten.
  • Bücher, von denen ich überhaupt nicht mehr weiß, warum sie gekauft wurden, werden entsorgt.
  • Sammlungen, Anthologien, Periodika etc. leben in großer Gefahr, entsorgt zu werden.

Das mag nun alles recht brutal klingen (auch in meinen Ohren tut es das), aber es ist tatsächlich die einzige Möglichkeit, an mein Ziel zu kommen. Nun bleibt noch das Wie. Und das hat mir am meisten Kopfzerbrechen bereitet. Folgende Grundsätze dazu:

  • Disziplin, Disziplin, Disziplin beim Bücherneukauf.
  • Die zu verschenkende Bücher werden nicht versendet. Das ist extrem aufwändig und für mein Vorhaben nicht angebracht.
  • Bücher müssen vor Ort abgeholt werden.
  • Bücher werden an Einzelpersonen grundsätzlich verschenkt. Ich habe dazu eine sich laufend aktualisierende Anzeige in eBay-Kleinanzeigen geschaltet. Auch in meinem Bekanntenkreis gebe ich den Umstand, dass man bei mir gute Bücher für umsonst gibt, kund.
  • Von Buchhändlern vor Ort halte ich aus verschiedenen Gründen Sicherheitsabstand.
  • Die Bücherei in Regensburg hat von mir eine Anfrage bekommen, ob sie an für die Ausleihe relevanten Büchern interessiert sei. Ich warte noch auf Antwort.
  • Wenn alles nicht hilft: Ihr wisst schon, ich mag es nicht aussprechen, aber das passiert dann auch.

Ich bin die ersten Schritte gegangen, mehr Wohnfläche ist noch nicht entstanden, aber immerhin eine Regalabteilung steht jetzt da wie neu und erfüllt wieder ihren Zweck (Bücher, die man sucht, auch zu finden), im Bad gibt es keine Stapel mehr und ich habe ein paar sehr nette Menschen (Abholerinnen) kennen gelernt. Der Schmerz, gebundene Abschnitte meiner Leseexistenz zu verlieren, ist da, aber eben auch das gute Gefühl des Loslassens. Endlich habe ich angefangen.

Links (auf externe Seiten) :

4 Kommentare on "Meine persönliche Parallelaktion"


  1. I understand your dilemma. I moved into an apartment that was half the size of my house. So everything, even books, had to be looked at with a very narrow eye. If I could not remember why I had it – out it went. I’m still doing that. Thankfully my libraries have taken my books for their „book sales“, which is an event I stay far away from. I never buy books anymore, I use the library constantly. Good luck on your endeavour.

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  2. Liebe Lena,
    ich weiß genau, in welchem Dilemma du steckst.
    Seit fast 20 Jahren bin ich dabei, meine Bücherregale „aufzuräumen“. Dabei entsprechen meine Kriterien fast genau den deinen.
    So manches Mal räumte ich diszipliniert und rigoros, manchmal eher halbherzig.
    Mehr als einmal las ich mich während der Aufräumaktion in einem Buch fest.
    Ausgemusterte Bücher brachte ich bis vor kurzem regelmäßig in ein Antiquariat am Ort. Leider gibt es das nicht mehr – es wurde aus Krankheits- und Altersgründen aufgegeben.
    Ab und zu lasse ich ausgelesene Bücher im Zug liegen – mit einem Zettel darin: „Zum Mitnehmen für jemanden, der gern liest.“
    Was ich festgestellt habe ist, dass man niemals mit dem Aussortieren und Aufräumen fertig wird.
    Wirklich niemals.
    Liebe Grüße von Rosie

    Antworten

    1. Da könntest Du recht haben liebe Rosie,
      ich habe jetzt eine Lösung gefunden, die mich (neben eBay-Schenkungen) jetzt so richtig voran gebracht hat: Ich habe Leute aus Salzburg über eBay kontaktiert, die mir für ihren sozialen Büchermarkt jedesmal 500 Bücher abnehmen. Zweimal waren sie schon da, einmal kommen sie noch. Da geht was vorwärts. Beim Aussortieren tut’s manches Mal richtig weh, sind die Bücher dann aber weg, ist es pure Erleichterung. Und in der aufgeräumten Hälfte meines Regals finde ich wieder Bücher. Stell Dir vor!
      Liebe Grüße,
      lena

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