Empfohlene Ausgabe: Wilhelm Raabe, Das Odfeld, herausgegeben von Hans-Jürgen Schrader, Insel Taschenbuch, 227 S., ISBN: 3-458-32586-7, antiquarisch noch recht gut zu erreichen. Oder die Reclam-Ausgabe.
Anfang November 1761, mitten im Chaos des Siebenjährigen Krieges stehen der alte Magister Noah Buchius und der ruppige Klosteramtmann von Amelungsborn am Rande des Odfelds im Weserbergland und werden Zeugen eines unheimlichen Spektakulums. Zwei riesige Rabenschwärme fallen übereinander her und befehden sich ohne Gnade. Buchius sieht den Verlauf der tierischen Luftschlacht als ein Zeichen: Der geliebte Herzog Ferdinand von Braunschweig wird siegen und die Menschen vor den einfallenden Franzosen schützen. Wir sind im dritten von fünfundzwanzig Kapiteln und wissen bereits, dass das berühmte Gymnasium von Amelungsborn nach Holzminden verlegt wurde und man den schrulligen Schulmeister Buchius zurückgelassen hat. Er lebt in einer Klosterzelle, leidlich versorgt von dem Amtmann, der mit Familie und Gesinde ebenfalls vor Ort ist. Die Lage wird immer brenzliger, die Gegend und damit auch das Kloster stehen mitten in der Kampfzone. Wir Leser und Leserinnen von »Das Odfeld« bleiben für die nächsten Stunden im Geschehen.
Den ehemaligen Schulmeister in seiner Zelle besucht noch in derselben Nacht der Knecht Schelze, der wie auch der Rest des Gesindes auf Amelungsborn vom Amtmann schlecht behandelt wird. Schelze möchte sich sogleich den Truppen Ferdinands anschließen, da der Überfall auf das Kloster durch die Franzosen unmittelbar bevorsteht. Der Magister kann ihm das ausreden, worauf sich die Magd Wieschen, Schelzes Freundin, erleichtert zeigt. Später tritt dann noch Thedel von Münchhausen auf: Auch dieser will zum Heer, aber vorher noch unbedingt Selina sehen, die angebetete, schöne Nichte des Amtmanns. In der Nacht kommt es tatsächlich zum Überfall französischer Marodeure und am nächsten Morgen flieht Buchius zusammen mit dem schlimmsten und besten ehemaligen Schüler Thedel von Münchhausen, mit Selina, die der Mutter beigebracht hat, wo der Mensch anfängt und wo er aufhört, und mit dem Knecht Schelze und dessen Wieschen. Sie finden Zuflucht in einer Höhle, werden aber von zwei schottischen Soldaten, Verbündete des Herzogs Ferdinands, entdeckt und gepeinigt, da sie vorher Proviant von getöteten englischen Soldaten mit in die Höhle verbracht haben. Der zufällig (!) vorbeireitende Herzog Ferdinand von Braunschweig kann sie erretten. Auch er erscheint als eine vom Krieg zerrüttete Gestalt. Thedel von Münchhausen schließt sich den Truppen Ferdinands an. Auf ihrem Weg zurück zum Kloster kommen die vier erneut an dem Odfeld vorbei: Die toten Raben vom Vortag, die vielen gefallenen Soldaten … und auch die Leiche von Thedel liegen dort. Im Kloster haben der Amtmann und seine Frau überlebt, sind aber gezeichnet fürs Leben. Zurück in seiner Zelle muss der greise Bruchius den verwundeten Raben freilassen, den er am Vortag mit in seine Zelle verbracht hatte.
»Ich weiß nicht, von wannen du gekommen bist, ich weiß nicht, wohin du gehst; aber gehe denn – in Gottes Namen – auch nach dem Odfelde. Im Namen Gottes, des Herrn Himmels und der Erden, fliege zu, fliege hin und richte ferner aus, wozu du mit uns andern in die Angst der Welt hineingerufen worden bist.«
So, im sehr Groben, die Handlung. Die dominierende Figur dieser langen Erzählung Wilhelm Raabes von 1888 ist zweifellos der alte ehemalige Schulmeister Noah Bruchius. Dieser, für den Schulbetrieb nicht mehr gebraucht, sucht Erbauung, Trost und eine Portion Gelassenheit bei Epiktet, Seneca, der Stoa, in der Bibel oder in Kampfs Todes-Boten. Folgerichtig wird im Text zitiert, was das Zeug hält. (Wir können natürlich jedes Mal im Anhang nachschlagen, müssen das aber nicht und sollten es vielleicht auch nicht. Einfach aufmerksam weiterlesen. Als Arno-Schmidt-LeserIn kennt man das ja.) Der größte Kontrast zu Bruchius zeigt sich im stürmisch-dränglerischen Thedel von Münchhausen (übrigens ein Neffe des uns bekannten Onkels). Der ehemalige Schüler und kriegswillige Thedel ist ein Mann der Tat. Und ausschließlich der Tat. Allein wie er um seine geliebte Selina wirbt – umhimmelswillen! Diese, ein wenig eingebildet, mit den Beinen auf dem Boden, durchschaut so manches. An dieser Stelle eine Besonderheit bei den Figurenzeichnungen: Raabe findet starke Bilder, um uns Leser und Leserinnen die Schrecken von Kriegshandlungen vor Augen zu führen. Die Panik und das Elend der Personen ist spürbar. Und gleichzeitig ist Platz für viele humorige Dialoge. Die Protagonisten bleiben in einer seltsamen Distanz zu der maximalen Drangsal. Am deutlichsten wird das für mich bei den drohenden Vergewaltigungen durch die Soldateska, sowohl im Kloster als auch später in der Höhle. Seltsam, irritierend, aber nicht ohne Wirkung. Die Leere gegen Schluss, Buchius Scheitern, wenn man so will, ist mir beim Lesen sehr nah gegangen. Da bleibt keine Spur mehr von Behaglichkeit.
Es war der Germanist Walther Killy, der »Das Odfeld« in den 1960ern untersuchte, um Raabe aus der Vereinnahmung der Nationalsozialisten und ihnen nahestehenden Interpreten zu befreien (s. Raabe-Handbuch, Stuttgart 2016, S. 218), und bis heute gibt es viele unterschiedliche Interpretationsversuche dieser Erzählung. Ein Autor der nationalen Rechten ist Raabe längst nicht mehr. Wir rieben uns verwundert die Augen, wie er das überhaupt werden konnte, wäre da nicht dieser Hungerpastor. Heute erfreuen wir uns an »Das Odfeld«, an dieser historischen Erzählung, die vielleicht gar keine historische ist, die so viel Fragen offen und so viele Lesarten zu lässt. Raabe war da längst in seinem Spätwerk angekommen, es folgten noch eine Handvoll Erzählungen, das Beste, was der Autor geschrieben hat. Man kann sich den Anhang mit den Anmerkungen der Braunschweiger Ausgabe übrigens als PDF ganz legal herunterladen. Ich habe in meiner Braunschweiger Ausgabe, deren glückliche Besitzerin ich bin, während der Lektüre der ersten hundert Seiten immer wieder in den Anmerkungen nachgesehen, die zweite Hälfte dann gar nicht mehr: Funktioniert auch. Vielleicht sollte man sich vorher kurz mit dem Siebenjährigen Krieg beschäftigen und lesen, was es mit diesem Herzog Ferdinand von Braunschweig auf sich hat. Allerdings ist eine bei weitem intensivere Auseinandersetzung mit diesem Werk mit Sicherheit ebenfalls lohnenswert.
Ich für meinen Teil habe wieder einmal erfahren dürfen, dass Wilhelm Raabe in seinen besten Werken mich fast immer kriegt, selbst aus einem Lektüreloch heraus. Ich muss nicht alles Dechiffrieren – das ein wenig im Unklaren Bleibende, vielleicht ist es grad das, was mich so reizt? Für Leser und Leserinnen, die ein permanent anwesender Erzähler nervt, die eine Geschichte klar und stringent erzählt bekommen haben wollen, ist Raabe nichts. Wer in den Raabe Kosmos einsteigen möchte, dem empfehle ich vielleicht »Der Schüdderump« oder, wenn es kürzer sein soll, »Zum wilden Mann« oder »Die Innerste«. Kompromisslose allerdings lesen mit »Das Odfeld« einen Raabe in Bestform.
Benutzte Literatur:
Wilhelm Raabe, Sämtliche Werke, Bd. 17, 2. durchges. Aufl., Göttingen 1981
D. Göttsche, F. Krobb, R. Parr (Hg.), Raabe Handbuch, Stuttgart 2016
PDFs der sämtlichen Werke von Wilhelm Raabe (Braunschweiger Ausgabe):
Der Link führt auf die Downloadseite der Bayerischen Staatsbibliothek
Wirklich begeißtert war ich bisher nur von „Die Chronik der Sperlingsgasse“. Dieses fragmentarisch verschachtelte, beinah wolkenhafte (im Doppelsinne auch der modernen „Cloud“) Erzählen gelingt mit so beeindruckender Leichtigkeit, das 90% der Modernen und Postmodernen in Kenntnis dieses Buches sich ihre eigenen wohl gespart hätten. Alles was ich sonst von Raabe gelesen habe fand ich im Vergleich sehr traditionell, manchmal beinah etwas altbacken (wenn auch nicht unbedingt thematisch)…
Da bist Du in guter Gesellschaft: Vielen gefällt grad die Chronik besonders gut.
Das Altbackene sehe ich eher als Tarnung für das Beunruhigende dahinter. Aber wenn es einen eher nervt, darf man es natürlich ablehnen.
Oioioioioi, da isser wieder und drängt: Lies mich endlich!
Ja, das hört sich hier alles gut an, solche aus der Zeit gefallenen Sichtweisen.
Mit Krieg nix am Hut haben in „Heldischer Zeit“, den Zeitgeistreitern also in den Stiefel kacken, wie Heyse mit „Gegen den Strom“ und der „Venus“.
Raabe, Raabe! Du kommst noch dran!
Ein ebenfalls guter „andersartiger“ Roman über den 7jährigen Krieg ist „Der Alte auf Topper“ von Hanns von Zobeltitz
Das freut mich, vielen Dank, auch für den literarischen Tipp!
Ich bin schon sehr gespannt, welchen Raabe Du dann wählen wirst.
Bis dahin: beste Grüße!