Wallstein Verlag 2023, hg. und kommentiert von Moritz Baßler. 288 S., ISBN 978-3-8353-5521-7
Das ist ja ein Ding! Es gibt eine neue kritische kommentierte Ausgabe der Werke von Wilhelm Raabe! Der erste Band erschien im Oktober 2023 im Wallstein Verlag: ›Fabian und Sebastian. Eine Erzählung‹. Der Erstdruck dieses Werkes erfolgte 1881 und 1882 in ›Westermann’s illustrierte Monats-Hefte‹. Herausgeber der Hefte war der zu dieser Zeit sehr bekannte Schriftsteller Friedrich Spielhagen. Die lange Erzählung Raabes gehört also zu dessen Spätwerk und wurde lange Zeit eher übersehen als besprochen, galt aber auch als eine Art Geheimtipp. Für mich Grund genug, mir diese Ausgabe zu besorgen und ›Fabian und Sebastian‹ zu lesen.
Die Handlung in diesem Roman beginnt in den 1870er Jahren an einem Januar. Die Chronologie der Ereignisse erstreckt sich über ein knappes Jahr. Fabian und Sebastian Pelzmann leiten eine Schokoladenfabrik in einer mittelgroßen Stadt in Deutschland. Während der nervöse, geschäftstüchtige Sebastian im Vorderhaus die Geschicke der Firma leitet, sitzt im Hinterhaus der verträumte Fabian, der Attrappenonkel wie er genannt wird. Er ist für die saisonalen Schokoladenfiguren zuständig, damit die »Konsumfähigkeit« der Kinder stets aufs Neue angestachelt werde. Wir haben hier eine typische Idylle nach Raabe: Man ahnt schon die Starre, das Trügerischere der Behaglichkeit. Und so wird diese Ruhe auch jäh gestört, als Konstanze, die Tochter aus der Ehe eines dritten Bruders mit einer indonesischen Frau im fernen Sumatra, aus Übersee in das kalte Deutschland und in die Obhut der beiden Brüder gelangt. Während Fabian und das Faktotum der Firma Knövenagel sich liebevoll um die verwaiste Nichte kümmern, reagiert der sichtlich beunruhigte Sebastian abweisend. Konstanze wird bei Aufenthalten auf dem Land bei dem befreundeten Amtmann von Schielau und dessen Frau den offensichtlich von großer Traurigkeit erfüllten Schäfer Thomas kennenlernen. Die engelsgleiche und mit einem starken Willen ausgestattete Konstanze freundet sich mit dem Schäfer an und versucht der Schwermut des Mannes auf den Grund zu gehen. Ab hier wird uns Lesenden Stück für Stück ein Familiendrama enthüllt. Und Konstanze, die wie es scheint, ein wenig künstlich in die Handlung eingeführt wird und seltsam körperlos bleibt, mutiert zur eigentlichen Heldin in diesem Roman. Der Schluss hat es dann in sich, Tränen sind garantiert. Wer die ganzen Verwicklungen jetzt sofort erfahren möchte, zieht bitte Wikipedia zu Rate. Ich habe gute Gründe, hier nichts weiter zu verraten.
Die gut 200-seitige Erzählung hat alles, was eine späte Raabe-Erzählung ausmacht: eine absichtlich umständliche und altmodisch wirkende Erzählweise, unerklärt bleibende Andeutungen und eine Vielzahl an Bedeutungsebenen. Unter anderem wird auf Themen der Industrialisierung und der Kolonialisierung angespielt. Ich bin diesem Stil gewissermaßen verfallen, ohne dass ich so wirklich erklären kann, warum und wieso. Die Figuren der späten Romane Wilhelm Raabes begleiten mich noch Wochen nach der Lektüre und mit ›Fabian und Sebastian‹ ist das nicht anders. In einem 40-seitigen Nachwort versucht Moritz Baßler, der auch der Herausgeber dieser Ausgabe ist, Finessen und Bedeutung dieses Werkes zu erklären. Vielleicht wären 20-30 Seiten an Nachwort genug gewesen, aber ich will keine Erbsen zählen. In weiten Teilen empfand ich das Nachwort als hilfreich und es hat meinen Lektürehorizont durchaus erweitert. Die angemessen knapp 20 Seiten Anmerkungen hat ebenfalls Moritz Baßler besorgt. In einer zweiseitigen editorischen Notiz wird erklärt, dass man hier der ersten Buchausgabe gefolgt ist und dass Abweichungen der bisher maßgeblichen Braunschweiger Ausgabe von 1964 gegenüber den Ausgaben zu Lebzeiten des Autors zurückgenommen wurden. Das Ausmaß dieser Abweichungen erfahren wir nicht.
›Fabian und Sebastian‹ ist ein wunderbarer Roman und hat seinen Platz in der Reihe meiner Raabelieblingsbücher ganz sicher. Kein so schlechter Einfall, ausgerechnet mit diesem Außenseiter die neue Werkausgabe zu beginnen. Es bleibt nur zu hoffen, dass dem Wallstein Verlag hierbei nicht die Puste ausgeht. Einen Editionsplan gibt es wohl noch nicht, aber als nächste Ausgabe ist für April ›Der Lar‹ angekündigt. Und mit diesem Buch macht man ja auch nichts falsch. Möge diese neue Werkausgabe viele Leserinnen und Leser finden.
Hm. Interessant. Woher die Melancholie des Schäfers? Eventuell eine Verführung und ein Rachemord auf nächtlicher Waldlichtung?
Die Andeutungen haben mich jedenfalls an Spielhagens „Selbstgerecht“ denken lassen.
Späte Novelle von ihm.
Hat sich ja hin und wieder von Vorgängern inspirieren lassen.
Schaumer mal, wie’mer da nu wieder drankommen.
Verführung? – mmh … da bist Du garnicht so weit weg. Und ja, Mord auch. Aber ich verrate ja nix. 😉