Lit 19. Jh.

Hanser Verlag 2009, 576 S., ISBN 978-3-446-23290-7, aus dem amerikanischen Englisch von Michael Walter und Daniel Göske.

Herman Melville brauchte nach »Moby-Dick« und »Pierre« dringend einen Erfolg, um vielleicht doch nicht im Rinnstein zu sterben. »The Piazza Tales« erschienen 1856 als Buch und enthielt fünf Kurzgeschichten, die Melville zwischen 1853 und 1855 für das New Yorker »Putnam’s Magazin« geschrieben hatte. Die »Geschichten von der Galerie« umfassen die extra als eine Art Einleitung geschriebene Erzählung »Die Galerie«, dann »Bartleby, der Lohnschreiber«, »Benito Cereno«, »Der Blitzableitermann«, »Die Encantadas« und »Der Glockenturm«. Ferner enthält der vorliegende Band aus dem Hanser Verlag die berühmte Erzählung von »Billy Budd, Matrose«. Dazu gibt es einen detaillierten Anmerkungsapparat, ein Nachwort von Daniel Göske und auch eine Zeittafel zum Leben von Herman Melville fehlt nicht.

Hanser 2020, 800 S., ISBN: 978-3446267695, neu übersetzt von Elisabeth Edl.

Gustave Flaubert wurde 1821 in Rouen, Frankreich geboren. Er starb 1880 in Croisset bei Rouen. Berühmt und wegweisend wurden seine Romane aufgrund seines objektivierenden Erzählstils: Keine Urteile, kein Erzähler, der in die Handlung eingreift. Die Figuren sprechen für sich und Widersprüche sind erwünscht. Dieses Credo verlangt eine besessene Recherche, für die der Autor berüchtigt war: Die beschriebenen Dinge müssen »richtig« sein, die Details haben zu stimmen. Gleichzeitig versuchte Flaubert die Sprache des Romans so nah wie möglich der Lyrik anzugleichen, der Rhythmus der Sprache ist entscheidend, jeder Satz jedes Wort hat seine Bedeutung. Kurz: Flaubert hat im Roman Neues geschaffen. Elisabeth Edl hat nach »Madame Bovary« nun auch das zweite große Meisterwerk des Franzosen übersetzt: Aus »Die Schule des Herzens«, »Lehrjahre des Gefühls« und Varianten davon wurde nun »Lehrjahre der Männlichkeit«. Ein erstes Thema für alle Kritiker der gefeierten Neuübersetzung.

Hanser 1993, dtv 2006, 383 Seiten, beide Ausgaben sind antiquarisch erhältlich. 

1865 wird Wilhelm Raabes Erzählung »Else von der Tanne« veröffentlicht. Ein pessimistisches, ein wenig rührseliges Kunstwerk aus Raabes Übergangszeit zwischen Früh- und Spätwerk. Es handelt von einem armen Pastor in einem Dorf in der Nähe des Südharzes direkt nach Ende des Dreißigjährigen Kriegs. Zwei Flüchtlinge aus Magdeburg, Vater und Tochter, erreichen den Ort. Else hilft dem Pfarrer aus einer tiefen Sinnkrise, doch sind nicht nur Land und Besitz der Menschen verwüstet, auch die Seelen der Menschen sind es. Auf grad 40 Seiten wird hier das, was Krieg aus Menschen macht, verhandelt. Vielleicht ein wenig kitschig hier und da, aber insgesamt doch ein kleines Meisterstück aus Raabes Frühzeit. So ohne Weiteres hätte ich die Erzählung nicht aus dem Regal geholt, aber nachdem ich gestern die Biographie über Wilhelm Raabe von Werner Fuld fertig gelesen hatte, war mir danach, dieser Empfehlung Fulds nachzugehen: ein Treffer.

Rowohlt 2019, 1264 S., ISBN: 978-3-498-04537-1, übersetzt von Melanie Walz.

Da lese ich also ein 1200-seitiges Buch, Zeile für Zeile, nur um am Ende das Gefühl zu haben, es sofort noch einmal von vorne lesen zu müssen, um noch mehr in diesem Roman zu entdecken. Ach, wäre ich nur eine gewissenhafte Leserin mit genügend Zeit und Muße. So bleibt es vorerst bei dieser ersten Lektüre, voller Staunen, Bewunderung und Freude an diesem Roman. George Eliot hieß eigentlich Mary Ann Evans, wurde 1819 in der Nähe von Coventry geboren und verstarb 1880 in London. Ihr bemerkenswertestes Werk »Middlemarch« erschien zuerst in Fortsetzung 1870 bis 1871. Es war ihr vorletzter Roman und es gab noch mehrere durchgesehene Ausgaben zu ihren Lebzeiten. In Deutschland hatte das Buch bisher nicht den Erfolg wie z. B. die Bücher von Jane Austen oder Charles Dickens. Ein Grund hierfür war wohl die Schwierigkeit, die spezielle Eliotsche Ironie angemessen ins Deutsche zu übertragen. Zum Glück nahm sich Melanie Walz dieser Herausforderung an und seit letztem Jahr haben wir ein »Middelmarch« vorliegen, dass es den der englischen Sprache nicht (ausreichend) Kundigen den ungetrübten Genuss dieses wunderbaren Buches ermöglicht. 

Insel Verlag 2020, 346 S., ISBN: 978-3-458-17848-4, auch als E-Book erhältlich.

Ursula Naumann ist Schriftstellerin und Germanisten. Der Verlag gibt auf seiner Webseite bekannt, dass die Autorin Frau Naumann heuer ihren 75. Geburtstag gefeiert hat. Herzlichen Glückwunsch! Ich bin auf Ursula Naumann und ihre Biographie »El Caballero Gustavo Bergenroth. Wie ein preußischer Forscher in Spanien Geschichte schrieb« durch einen Literaturpodcast, genauer durch »Gutenbergs Welt« vom WDR gekommen: Walter von Rossum unterhält sich mit der Autorin über einen Juristen aus Ostpreußen, Jahrgang 1813, der über abenteuerlichste Wege ins spanische Simancas gelangte, um dort historische Dokumente aus der Tudorzeit zu entschlüsseln. Kein Mensch hierzulande kennt Gustav Bergenroth. Der renommierte Historiker Geoffrey Parker benennt Bergenroths Arbeiten in seiner 2019 erschienen und gefeierten Biographie »Emperor. A new life of Charles V« als außerordentlich wichtige Quellen. Wer um alles in der Welt war also dieser Bergenroth? Warum ist er so vergessen? Meine Neugierde war geweckt.

Fischer 2009, 896 S., ISBN: 978-3-596-90209-5, auch als E-Book erhältlich.

Da war einiges los in meinen 10er Jahren: 1969 die Mondlandung, 70 die WM in Mexiko und 1971 schließlich »Die Frau in Weiß«, ein Fernsehdreiteiler, der die bundesrepublikanischen Straßen leerräumte, ein Straßenfeger eben. Schaut man sich auf Youtube diese Verfilmung des Wilkie-Collins-Klassikers an, so mag dieses Fernsehstück heutzutage nicht mehr recht zünden. Und der Roman? Die Wiederentdeckung dieses Schauerromans aus der viktorianischen Zeitepoche darf sich zu großen Teilen Arno Schmidt auf die Fahnen schreiben. 1962 übersetze er die rund 800 Seiten und nach anfänglichen Bedenken seitens des Verlags wegen des Umfangs kam »Die Frau in Weiß« ungekürzt und in der Übertragung von Arno Schmidt 1965 auf den Markt. Das Buch wurde ein Bestseller (wie auch das englische Original bei seiner Erstveröffentlichung 1860) und, wenn man so will, Arno Schmidts erfolgreichstes Buch. Und heute? Ich habe (leider) ein recht schlechtes Gedächtnis und so kannte ich den Plot dieses Klassikers nur noch schemenhaft. Gute Voraussetzung aber, um die Probe aufs Exempel zu probieren: Funktioniert »Die Frau in Weiß« auch heute noch?

Hanser 2019, 336 S., ISBN 978-3-446-26408-3, auch als E-Book erhältlich.

Johann Christian Friedrich Hölderlin, 250 Jahre nachdem er geboren wurde. Die Feierlichkeiten zu diesem Jubiläum nehmen keine Ausmaße an, wie sie es bei Beethoven taten. Der ist auch heute noch populär, Hölderlin eher schwierig. Der Dichter strebte nach Idealen, Neuschaffung eines Mythos, griechische Götter unter uns, es geht permanent ums Große und Ganze. Solches hohe Lied klingt recht fremd für heutige Ohren. Oder aber war Hölderlin gar ein Revoluzzer, ein überspannter Poet, ein Wahnsinniger im Turm? Schelling, Hegel, Hölderlin, der Freundesbund, deutscher Idealismus, Streben nach Freiheit. Philosophie und Poesie von Männern, die alles wollten. Blättere ich mich durch Hölderlins Texte, stoße ich auf Hymnisches, immer wieder Klagegedichte, die Elegien, Sehnsucht nach Verschmelzung, Griechen überall, Hölderlins Griechen. Das kann schon ziemlich nerven. Dann aber plötzlich zeitlose Stellen wie das bekannte »Wo aber Gefahr ist, wächst/ das Rettende auch«, die Turmgedichte, die mich schon immer seltsam berührten. Ich brauche Hilfe und greife zu Altbewährten: Einer Biographie von Rüdiger Safranski.

Aufbau Verlag 1998 (2. Aufl. 2018), Große Brandenburger Ausgabe, Das erzählerischer Werk, Band 15, 536 S., ISBN: 978-3-351-03127-5 

›Effi Briest‹ von Fontane also: Wir hätten da eine arrangierte Ehe Ende des 19. Jahrhunderts zwischen der 17-jährigen Tochter des Ritterschaftsrats von Briest und seiner Frau Luise aus Hohen-Cremmen im Havelland mit dem 20 Jahren älteren Landrat Innstetten aus Kessin in Hinterpommern. »Ich merke das auch; sie sind hier so streng und selbstgerecht. Ich glaube, das ist pommersch.« bemerkt Effi später. Wenige Jahre danach, inzwischen hat der berufliche Aufstieg Innstettens bei Bismarck das Paar mit Kind und Personal nach Berlin ziehen lassen, hat Effi endlich begonnen, sich in ihr Leben einzufinden. Da wird ihr eine läppische Affäre zum Verhängnis. Und nicht nur ihr: Ehrenkodex und gesellschaftliche Konvention zerstören, was langsam zu wachsen schien. Ich habe mich gefragt, was Fontanes berühmtester Roman mir heute sagen kann, und habe das Buch in der ›Grossen Brandenburger Ausgabe‹ im Aufbau-Verlag gelesen.

Galiani Verlag Berlin 2018, ISBN 9783869711386, 592 Seiten auch als E-Book erhältlich.

Nein, das Wetter in Westfalen ist nicht gut in diesen Jahren zwischen 1817 und 1821. 1815 war der Tambora, ein Vulkan östlich von Java gelegen, mit seit Menschengedenken nie erreichter Gewalt ausgebrochen und hatte weltweite Klimaänderungen zur Folge. In endlosen Regentagen entstand Mary Shelleys »Frankenstein« und William Turner brachte die ungewöhnlichsten Farbphänomene auf die Leinwand. Für die einfachen Leute galt es, Missernten zu überstehen. Man aß, soweit vorhanden, das eigene Saatgut oder Pferdefleisch. Der Adel beklagte sich indessen über die vielen Hungerleider überall. Und dann die Verkehrswege in Westfalen, der schlimmsten Gegend Europas, wie englische Reiseschriftsteller zu berichten wissen. Solche Zustände machten Kutschfahrten zur Tortur. Hier also wächst die 1897 viel zu früh geborene Annette, genannt Nette, auf. Kränklich ein Leben lang aufgrund der verfrühten Geburt, extrem kurzsichtig und frech wie Oskar. Sie gehört zum Stamm der Familien von Droste-Hülshoff und von Haxthausen, beides altwestfälischer katholischer Adel. Ein privilegiertes Leben also. Doch das Fräulein Nette hat zwei Probleme: Sie hat Talent und sie ist eine Frau. Und schon sind wir mittendrin in dem 2018 erschienen und fast 600 Seiten starken Roman von Karen Duve.

Hanser Verlag 2012, 840 Seiten, ISBN: 978-3446238749, übersetzt von Vera Bischitzky, auch als Taschenbuch bei DTV erhätlich.

1859 betritt Oblomow die literarische Welt. Leser und Leserinnen dieses Romans von Iwan Alexandrowitsch Gontscharow (1812-1891) haben gegenüber den Romanen der großen Dostojewskij und Tolstoi einen Vorteil: Es hat zwar viele Seiten, aber das Personal bleibt übersichtlich. Man weiß also immer, wer die handelnden Personen sind. Und wenn man bei den Hausangestellten doch einmal durcheinandergerät, hat man eben zu schnell gelesen. Es passiert außerdem nicht wahnsinnig viel auf den 746 Seiten: Oblomow, der zu Beginn des Romans etwa dreißigjährige Held, lebt in Sankt Petersburg und ist gefangen in seiner Lethargie. Den Staatsdienst hat er hingeschmissen, allein die russische Klassengesellschaft der Zarenzeit sichert ihm materielles Auskommen. Dieses gerät in Gefahr, weil selbst die Unterhaltung des väterlichen Gutes ihn überfordert: Nichts wird zur Tat, alle Gedanken zur Verbesserung erstarren zu Träumen und Phantastereien. Zudem versuchen zweifelhafte Freunde, ihn übers Ohr zu hauen. Doch es gibt zwei Personen, die ihn lieben und versuchen, Oblomow zu retten.