Friedrich Glauser: Matto regiert

Unionsverlag 2005, Taschenbuchausgabe, 320 Seiten, ISBN: 3293203159, mit einem Nachwort von Hg. Bernhard Echte, Anmerkungen und einem editorischen Bericht. Textgleich mit der gebundenen Ausgabe beim Limmat Verlag, die antiquarisch noch zu erreichen ist.

Vor wenigen Wochen erschien im Schweizer Limmat Verlag der Prachtband »Friedrich Glauser. Jeder sucht sein Paradies« von Christa Baumberger. Eine Sammlung bisher zu großen Teilen unveröffentlichter Briefe, Berichte und Gespräche aus dem Leben des bedeutenden Schweizer Schriftstellers Friedrich Glauser. Doch vor der Anschaffung war eine Frage zu klären: Ich besitze aus jungen Lesetagen die Bücher aus der Wachtmeister-Studer-Reihe und die vier Erzählbände – aber interessiert mich Glauser heute überhaupt noch, hat er mir noch etwas zu sagen? Das sollte möglichst vor dem Kauf eines solchen Prachtbands geklärt werden. Ich zog Glausers Meisterstück aus der 6-bändigen Wachtmeister-Studer-Kassette des Unionsverlags, die heute mit Glück noch antiquarisch zu erreichen ist. »Matto regiert« also habe ich nach vielen Jahren wiedergelesen. Und es war eine erstaunliche Lektüre.

Den Leserinnen und Lesern, die wohl schon einmal etwas vom Friedrich-Glauser-Preis gehört hat, aber mit der Person des Autors nicht wirklich etwas anfangen kann, hier ein paar Stichworte zum Leben: Geboren 1896 in Wien, Mutter aus Österreich, Vater aus der Schweiz; 1900 stirbt die Mutter; Landerziehungsheim, Selbstmordversuch; 1915 erste Veröffentlichungen, Bekanntschaft mit Dada; 1917 Lungentuberkulose und Morphiumbehandlung, von da an suchtkrank; 1918 wird Glauser auf Betreiben des Vaters vom Vormundschaftsgericht in Zürich entmündigt. Glauser stiehlt, betrügt, fälscht Rezepte und schreibt. Aufenthalte in verschiedenen Irrenanstalten und psychiatrischen Kliniken; 1921 Eintritt in die Fremdenlegion, Ausmusterung 1923; 1925 ist Glauser wieder in der Schweiz. Psychiatrische Klinik Münsingen. Nach zwischenzeitlichem Aufenthalten u. a. in Paris (1932), Rezeptfälschungen, Verhaftungen, Anstaltsaufenthalten stirbt Glauser 1938 in Nervi bei Genua. Da ist viel Bitteres in diesem Leben. Mein geistiges Auge stellt diese Vita einmal kurz neben die von Thomas Mann. Ich wundere mich, wie produktiv Glauser trotz dieser prekären Lebensumstände gewesen ist. Es gibt ja nicht nur die Studerkrimis, anderes wie die Erzählungen waren ihm wichtiger, es gibt »Gourrama«, den Roman über seine Zeit bei der Fremdenlegion.

Aber zurück zu »Matto regiert«, einem Kriminalroman aus der Studer-Reihe, der 1937 in Zürich erschienen ist. Studer, einst bei seinen Vorgesetzten in Ungnade gefallen, wird barsch in die Heil- und Pflegeanstalt Randlingen beordert. Dort sei der Direktor der Anstalt Borstli verschwunden und der Insasse Pieterlen entflohen. Der stellvertretende Direktor Dr. Laduner, der Studer von früher kennt, wünscht ausdrücklich, dass Studer in seiner Anstalt die Nachforschungen anstellt. Am Ende des Romans wird sich herausstellen, dass dieser seine Gründe dafür hatte. Studer findet recht bald die Leiche des Borstli im Heizungskeller und die ganze Sache nimmt Fahrt auf. Wobei »Fahrt aufnehmen« für die Arbeitsweise des Wachtmeister Studer vielleicht die falsche Metapher ist. Der Fahnder ist eher träge, vergesslich, recht altmodisch und nachdenklich, verlässt sich ganz auf seine Intuition. Ganz das Gegenteil der forsche Dr. Laduner: Er agiert auf der Höhe der Zeit, schmeißt mit Fremdworten um sich und versucht, den Wahnsinn wissenschaftlich zu durchdringen und zu bekämpfen. Zwischen beiden Akteuren entwickelt sich ein außergewöhnliches Kräftemessen im Reiche Mattos, wie ein Insasse der Anstalt den Wahnsinn nennt. 

In jeder Zeile ist zu spüren, dass der Autor weiß, wovon er schreibt. Glauser hat das System Psychiatrie nicht nur erlitten, sondern auch intellektuell durchdrungen. Auf eine faszinierende Art sind die Figuren in »Mattos Reich« und die Atmosphäre um sie herum echt. Auf mich als Leserin hat dies eine ungeheure Wirkung. Der Fall als Kriminalstück geht in Ordnung, die Auflösung etwas verwirrend vielleicht, aber durchaus überraschend. Die eigentliche Stärke des Romans geht weit über das Krimigenre hinaus. Es werden noch heute gültige Fragen der Methodik und Zielsetzung in der Psychiatrie aufgeworfen. Das geschieht aber nie aufdringlich oder belehrend, sondern öffnet sich im Fortgang der Handlung, im Duell zwischen Studer und Dr. Laduner. Die Sprache ist einfach gehalten, sieht man von den Schweizer Idiomen ab, die in der wörtlichen Rede immer wieder benutzt werden. Nichtschweizer tun sich hier eher schwer, aber da muss man eben durch. Dem allgemeinen Verständnis tut es keinen Abbruch, wenn man hier und da nicht ganz versteht, was gesprochen wurde. Mir ein erwähnenswertes Ärgernis: Der Roman spielt in den 1930er Jahren und sein Autor wie sein Held Studer haben zumindest in diesem Krimi nicht viel für ein modernes Frauenbild übrig. Das mag authentisch für diese Zeit in diesem Milieu sein, tut aber heutzutage hier und da weh beim Lesen. Wenn z. B. Greti Laduner, von Glauser als mütterliche und verständnisvolle Frau gezeichnet, von ihrem Mann Dr. Laduner ins Bett geschickt wird, weil die Männer in Ruhe miteinander wichtige Dinge bereden wollen, so ist das schon harter Tobak. 

Dem Roman vorangestellt ist eine »notwendige Vorrede« Glausers: »Die Personen, die auftreten, sind frei erfunden. Mein Roman ist kein Schlüsselroman.« Die fast 40 Seiten Anmerkungen zeugen vom Gegenteil. Die Anspielungen auf Glausers Klinikaufenthalten, vor allem in Münsingen, sind frappierend und Personen, die Glauser aus seinem Aufenthalt dort kannten, konnten sich in den Figuren mühelos wieder erkennen. Nicht immer waren sie darüber erfreut. Sehr wirkungsvoll baut Glauser auch Zeitgeschehen in die Handlung ein: Als Studer mit Laduner in der Stube sitzt, tönt aus dem Radio unvermittelt eine Rede Adolf Hitler. Matto regiert überall.

Die noch gut erhältliche Taschenbuchausgabe des Unionsverlags von »Matto regiert« enthält auch ein kenntnisreiches Nachwort des Herausgebers Bernhard Echte. Er betont, dass dieser Roman für Glauser wohl auch eine Verarbeitung der fehlenden Auseinandersetzung mit seinem tatsächlichen Therapeuten war. Alles in allem eine wirklich hervorragende Ausgabe, die ein tiefes Eindringen in Bezüge und Zusammenhänge dieses Romans ermöglicht. Literarisch vermag »Matto regiert« Leserinnen und Leser in ihren Bann zu ziehen und zeigt, dass Friedrich Glauser auch heute noch ein unbedingt lesenswerter Autor ist.

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