Septime Verlag 2016, 504 S., ISBN: 978-3902711465, aus dem amerikanischen Englisch von Bella Wohl. Auch als E-Book erhältlich.
Was ein Leben. Geboren wurde Alice B. Sheldon 1915 in eine wohlhabende Familie aus Chicago, unternahm früh Reisen nach Afrika und Asien, arbeitete als Kunstkritikerin, war für den Geheimdienst tätig, bewirtschaftete eine Hühnerfarm und noch so manches mehr. Sie nahm sich 1987 das Leben, nachdem sie ihren schwer erkrankten und pflegebedürftigen Mann getötet hatte. Um mehr zu erfahren, lese man in Wikipedia oder in Julie Phillips opulenter Biographie nach. Mit 52 Jahren begann Alice B. Sheldon Kurzgeschichten zu schreiben und wählte in einem männlich dominierten Literaturbetrieb das Pseudonym James Tiptree Jr.. Heute können wir erfreulicherweise im Septime Verlag aus sieben Bänden Kurzgeschichten wählen: Großartige Science-Fiction, die der Qualität eines Philip K. Dick in nichts nachsteht. Ihr Stil ist stets pointiert, einfallsreich, lakonisch, Geschlechterrollen und -klischees werden in Frage gestellt, kurz: Die SF der Alice B. Sheldon zeigte und zeigt, was in diesem Genre möglich ist. Spät versuchte sie sich an zwei Romanen. Der erste Roman, ›Up the walls of the world‹ auf Deutsch ›Die Mauern der Welt hoch‹, erschien 1978. Ich habe ihn gelesen.
Zuerst treffen wir auf ein schier unendlich großes, all unseren physikalischen Vorstellungen widersprechendes, vollkommen rätselhaftes Wesen. Das Böse nennt es sich. Immer wenn der Text ausschließlich in Großbuchstaben gehalten ist, fühlt und denkt das Böse (oder was man so fühlen und denken nennt). Es ist abtrünnig geworden und zieht getrennt von seiner Rasse allein durchs Weltall. Sonnen sind wie Spielzeuge für diesen Leviathan, er spielt mit ihnen, von Leben im All hat er allenfalls eine vage Ahnung.
Dann lernen wir Tyree kennen, einen Gasplaneten. Die Autorin beschreibt Leben und gesellschaftliche Ordnung der Tyreaner sehr ausführlich. Hier nur einige Aspekte: Die Wesen sind riesig, erinnern an Rochen und können fliegen. Kommuniziert wird über ein Leuchten der Körper, Sprache in unserem Sinn kennen die Tyreaner nicht. Es gibt Geschlechterrollen: Die Männlichen gelten mehr, da sie die Kinder hüten, die Weiblichen sind Kämpferinnen, was nicht so viel zählt. Männliche können auch Horcher werden. Diese kreisen oben auf den riesigen Windmauern, um ins All zu blicken und nach eventuellen Gefahren zu suchen. Eine Gruppe in dieser Gesellschaft möchte diese Ordnung durchaus ändern. Die Tyreaner sind unter gewissen Voraussetzungen in der Lage, Bewusstsein mit anderen Wesen, auch von anderen Planeten, zu tauschen. Das gilt allerdings als eklatantes Verbrechen. Doch sehr bald wird klar, dass der Zerstörer aus dem All ihrer aller Existenz bedroht.
Auf der Erde befasst man sich indessen mit Parapsychologie. Unter der Leitung von Dr. Dan beschäftigt sich in Zeiten des Kalten Krieges eine Forschungsgruppe der Regierung bestehend aus einer guten Handvoll von Personen mit dieser obskuren Wissenschaft. All diesen Personen ist neben ihren parapsychologischen Fähigkeiten gemein, dass sie zum Teil erhebliche Traumata und Sorgen mit sich herumschleppen (Schuldgefühle, Genitalverstümmelung, Leukämie und mehr). Dass sie mehr oder weniger alle übersinnliche Fähigkeiten besitzen, wird nicht ohne Folgen bleiben.
Das in etwa und stark verkürzt die Ausgangsposition. Es wird also zum Angriff des Bösen kommen, ein furchtbares Drama zur Folge und die Tyreaner sind gezwungen sich der Menschenkörper zu bemächtigen und es herrscht recht bald ein großes Durcheinander. Für wenige wird es ein Entkommen geben.
Ich war etwa bis zur Hälfte des Romans, ein paar Längen verziehen, begeistert. Die Grundkonstellation ist rasch klar und verspricht viel. Tyree und deren Bewohner sind in ihrer Einzigartigkeit ganz wunderbar beschrieben, man muss sie mögen. Und auch der Part des Bösen lässt mir als Leserin viel Platz für meine Phantasie. Ich verstehe immer grad so, was vor sich geht, der Rest passiert in meiner Vorstellungskraft und dieses Spiel hat für viele Buchseiten einen großen Reiz. Und es gibt viele hinreißend komische Passagen. Irritiert hat mich lediglich die Gruppe um Dr. Dan. Warum all diese schrecklichen Traumata? Nun gut, meine wirklichen Probleme mit dem Buch beginnen dann mit dem zweiten Teil.
Unweigerlich verbinden sich die zuerst getrennt erzählten Stränge miteinander und werden zu Aktion. Aktion, die aber immer wieder durch detailverliebte Erklärungen und Dialoge unterbrochen werden. Personen werden schwer zu unterscheiden (zugeben eh nicht meine Stärke als Leserin) und das Ganze beginnt sich zu ziehen, es fehlen Tempo und Struktur. Und wir haben immerhin einen 500 Seiten starkes Buch vor uns. Und so will ich über ›Up the walls of the world‹ nicht gänzlich den Stab brechen wollen, dazu ist die erste Hälfte einfach zu gut. Doch dann wird mir das Folgen sehr mühsam. Schade.
Fazit: Trotz grandiosen Settings und wunderbarer Passagen würde ich diesen Roman nicht empfehlen, da er im zweiten Teil und vor allem im seitenreichen Finale enttäuscht. Wer James Tiptree Jr. noch nicht kennt, greife lieber zu einem der sieben Erzählbände. Er und sie werden staunen, wie großartig diese Schriftstellerin ist.
Ich hab hier eine digitale Sammlung mit ganz vielen Texten von ihr… Fand ich bisher immer interessant, wenn auch nicht durchweg unglaublich. Muss mal schauen, ob da auch die Romane dabei sind…
Dieser hier hieß übrigens in einer ersten Übersetzung ›Die Feuerschneise‹
danke. Meine Sammlung ist allerdings englisch, also finde ich ihn so nicht …
Ja. – Nee. Das hilft dann nicht weiter …
Ich erkenne die Romane ja dann wahrscheinlich an ihrer Länge 😀
Super Plan!