Suhrkamp 2023, 829 S., aus dem Polnischen von Lisa Palmes, ISBN 978-3-518-43131-3, auch als E-Book erhältlich.
Es fing damit an, dass ich das Buch im Schaufenster der Buchhandlung meines Vertrauens entdeckte: Der Name der polnischen Autorin, Joanna Bator, kam mir gleich bekannt vor. Einige Jahre ist es her, dass ich ›Sandberg‹ las und geradezu verzückt war. Damit war genug Vertrauen in das jüngste Werk der Autorin hergestellt (zumal das Feuilleton begeistert auf die Veröffentlichung letztes Jahr reagierte, was allerdings nicht allzu viel heißen will) und ich kaufte den 800-Seiten-Wälzer. Es ist nicht eben leicht, über dieses Buch zu schreiben, ohne von vornherein zu viel zu verraten. Also beschränke ich mich auf Aufbau, Orte und Personal.
Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis gibt einen ersten Aufschluss: Vom Anfang und dem Ende abgesehen gibt es 11 Abfolgen mit den Kapitelüberschriften Berta, Barbara, Violetta und Kalina. Das sind Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und Tochter. Die Erzählerin, welche im Text hin und wieder zu einer Ich-Erzählerin mutiert, ist diese Tochter. »Diejenige, die erzählt, und die jüngste meiner Hauptfiguren, Kalina Serce, sind ein und dieselbe Gestalt«, so erklärt es uns die Erzählerin schon zu Beginn. Die Kapitel, die das Leben der Frauen erzählen, sind nun keineswegs chronologisch aufgebaut. Es geht vor und zurück, eine ziemlich wilde Mischung das Ganze, aber nie unangenehm verwirrend. Ich weiß als Leserin immer, wo und wann ich mich innerhalb dieser in etwa 70 erzählten Jahre befinde. Und wenn die Sache doch einmal nicht auf Anhieb klar ist, dann wird sie das auf der nächsten Seite.
Die Hauptpersonen: Berta lebt in den 1920er Jahren in Langwaltersdorf nahe Waldenburg, damals noch deutsche Städte in Schlesien, zusammen mit ihrem Vater. Ihre Mutter Winifried starb im Kindbett. Der Vater beutet seine Tochter rücksichtslos aus. Statt Bildung (Berta schreibt Tagebuch und sehnt sich nach einem anderen Leben) wird sie eine schlecht behandelte Fachkraft in der Fleischerei ihres despotischen Vaters. Die von Berta hergestellten und sehr begehrten Fleischwaren werden unter anderem in dem naheliegenden Lungensanatorium verkauft. Ihre Tochter Barbara, die 1939 geboren wird, wächst als Waise in einem Kinderheim auf und wird von dem traumatisierten Ehepaar Serce adoptiert. Ab dem Zeitpunkt sind wir in einer Sozialwohnung am Bergmannsplatz in Wałbrzych. Hier wird nun der größte Teil der Handlung spielen. Die erbarmungswürdige, unglückliche Violetta, geborenen in den 1960ern und benannt nach der damals berühmten Schlagersängerin Violetta Villa (bitte unbedingt googeln und hören), versucht, den ganzen Roman über der Tristesse im Viertel zu entfliehen, nur um wieder und wieder geschlagen zurückzukehren. Zu ihrer Tochter baut sie so wenig ein Verhältnis auf, wie ihre Mutter zu ihr. Folgerichtig ist das Band von Kalina, der Erzählerin, zu ihrer Großmutter Barbara besonders stark. Deren »Szajs, szajs«, in etwa »So ein Mist«, zieht sich wie ein Leitmotiv durch den Roman. Solche wiederkehrenden Motive gibt es viele: »Um elfe kommen die Wölfe, um zwölfe bricht das Gewölbe« ist noch so eins.
Auffallend ist, wie scheinbar gnadenlos die Heldinnen mit all ihren Schwächen und Skurrilitäten beschrieben werden. (Und wie oft ich mich in diesen nicht selten peinlichen Verhaltensweisen der Frauen und ihren verkorksten Beziehungen untereinander wiederfinde!) Verzweifelt versuchen sie, ihrer prekären Situation zu entfliehen. Die anschwellende Bitternis der Frauen wird genährt von den Lebensverhältnissen und ganz konkret von trinkenden, gewalttätigen und bestenfalls gleichgültigen Männern, ohne dass hierbei ein wohlfeiles Schwarzweißmalen stattfinden würde: Die Verhältnisse sind eben so. Eine Ausnahme ist Kalina, die Erzählerin. Kalina scheint die Erste, der ein Leben ohne Bitternis gelingen will. Ende offen.
Da ihren Vorfahrinnen zu eigen war, dass sie Briefe oder Tagebücher verfassten, kann die Ich-Erzählerin diesen Existenzen, wenn auch mit Leerstellen, nachgehen. Mit jedem Kapitel, jedem Durchgang der vier Protagonistinnen werden die Zusammenhänge ihrer Schicksale deutlicher. Das ist faszinierend zu lesen. Der Erzählstil ist eine wilde Mischung aus geradezu phantastischen Elementen und lakonisch erzähltem Realismus. Gerade gegen Ende des Buches gibt es Stellen, die kaum auszuhalten sind. Nein, der Text beschönigt nichts, nichts an den Figuren, nichts an den Zuständen – aber diese große Erzählung hat auch Platz für Rebellion, für Mut und für viel Sympathie. Wer das Buch liest, wird verstehen, was ich damit meine. Was zeitgenössische Literatur angeht, so ist ›Bitternis‹ das beste Buch, das ich in den letzten Jahren gelesen habe. Da lege ich mich fest.
Es bleibt noch zu sagen, dass das Buch eine sehr angenehme Typographie hat, auch wenn diese Einschätzung lediglich den Geschmack der Betrachterin widerspiegelt. Das Umschlagbild ist in der Suhrkampausgabe (inzwischen gibt es auch eine bei der Büchergilde) ein Ausschnitt des Gemäldes »Lächelndes Mädchen, eine Kurtisane, hält ein obszönes Bild« von Gerrit van Honthorst (1625). Der Zusammenhang zum Buch erschloss sich für mich hierbei nicht so ganz. Ein besonderes Lob schließlich der Übersetzung Lisa Palmes. Nun bin ich des Polnisches nicht mächtig, aber die Sprache des Romans wirkt so fein und vital, der Stil so flüssig, dass sie gute Arbeit geleistet haben muss.