Penguin Verlag 2018, 280 Seiten, durchgehend vierfarbig illustriert, handgeschrieben und -gestaltet, ISBN: 978-3-328-60005-3
Sehr jung, ohne Kenntnisse im Französischen und mit schmaler Geldbörse bin ich vor über 40 Jahren Richtung Paris getrampt. Irgendwo vor Reims wurde ich von einer Polizeimannschaft aufgehalten. Ich versuchte die Konversation auf Englisch, denn Deutsch in Frankreich zu sprechen schien mir zu gewagt. Das tut man nicht, Geschichte und so. Ich bekam Schwierigkeiten, denn ein Deutsch sprechender Polizist legte meinen hilflosen Versuch als Betrug aus: Warum tun Sie so, als wären sie Engländer? Die Sache ging gut aus und ich traf später in einer Jugendherberge in Paris eine junge Frau, die jüdischer Abstammung war. Ich weiß nicht mehr, woher sie kam, aber wir konnten uns auf Englisch unterhalten. Sie war der erste jüdische Mensch, mit dem ich bewusst sprach. Beklemmung, Schamgefühl, Neugier und wieder die Geschichte. Zwei Episoden meiner frühen Jahre, die sich mir ins Gedächtnis spülten, als ich »Heimat« von Nora Krug las und betrachtete. Und dann ist da noch die Ahnenforschung, die mich auf der Suche nach Heimaten viele Jahre intensiv beschäftigt hat und die ich heute noch sporadisch betreibe. Kurzum: »Heimat«, in dem sich die Illustratorin und Autorin Nora Krug auf Spurensuche nach dem Leben ihrer Familie während der Nazizeit begibt, hatte bei mir ein komplettes Heimspiel. Und dieses Heimspiel wurde zu einem Leseerlebnis, das ich so schnell nicht vergessen werde.
Die Gründe, wie es zu diesem Album (es ist eher ein Familienalbum als eine Graphic Novel) kam, sind vielfältig. Einer davon ist auf den ersten beiden Doppelseiten gezeichnet und aufgeschrieben: Die Autorin blickt von einer Dachterasse auf New York. Sie, die Deutsche, kommt mit einer alten Frau, die das Konzentrationslager überlebt hat, ins Gespräch. Bestimmt hat sich seither viel verändert, sagt die Dame wie zum Trost am Schluß. Hat es sich? Nora Krug wurde 1977 in Karlsruhe geboren, studierte Design in Liverpool, Illustration in Berlin und New York und veröffentlicht regelmäßig in der New York Times. Seit über 10 Jahren lebt und lehrt sie in New York. Sie ist verheiratet mit einem Mann, der aus einer jüdischen Familie abstammt, und hat eine Tochter. Nie hätte sie sich so Deutsch gefühlt als wie in New York sagt sie. Ein mitunter beklemmendes Gefühl. Wer solche Gefühle für eine bourgeoise Verdrehung und Nationalduselei hält, wird so seine Schwierigkeiten mit dem Buch haben. Wer aber die Gräuel der Nazizeit für eine Ansammlung von Vogelschissen hält, sollte gleich die Finger davon lassen.
Wir müssen zuerst über das Äußere des Buchs sprechen. Das Buchcover erinnert sofort an den Wanderer im Nebelmeer, dieser von Caspar David Friedrich gemalten Ikone der Romantik. Eine rückwärts gewandte Frau auf einer Anhöhe mit Stiefeln, Jeans und roter, weißgepunkteter Jacke bekleidet blickt über ein Dorf. Darüber ein brennendes Flugzeug. Während in der deutschen Ausgabe das Dorf als Strichzeichnung dominiert, liegt in der englischsprachigen Ausgabe die Betonung auf der Landschaft. Eine fotoähnliche, in sattem Grün gehaltene Tallandschaft ist hier zu sehen. Die Deutschamerikanerin Krug lebt in zwei Welt und hat offensichtlich für beide Ausgaben unterschiedliche Nuancen gewählt. Der Vorsatz des Buches zeigt vorne den gezeichneten Stammbaum der Mutter der Autorin in Karlsruhe. Entsprechend finden wir auf dem hinteren Vorsatz den Stammbaum des Vaters aus dem ca. 2 Autostunden nordöstlich von Karlsruhe gelegenen Külsheim. Nach der oben erwähnten Begegnung mit der alten Dame macht sich Nora Krug in 15 Kapiteln auf die Suche nach den Zeichen ihrer Familien, ihrer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern. Denn »Wie kann man begreifen, wer man ist, wenn man nicht versteht, woher man kommt?«. Ein Motiv, das mir sehr bekannt vorkommt. Bei all den gefährlichen Klippen für BloggerInnen was Datenschutz und Copyrights betrifft, bin ich dankbar, dass die Autorin auf ihrer zweisprachigen Webseite (Verlinkungen unten, nach dem Text) Arbeitsvideos und reichlich Material versammelt hat. Man kann dort sehr gut einen direkten Eindruck der Ästhetik von »Heimat« gewinnen. Das Buch ist aus gestalterischen Gesichtspunkten ein einziges Fest: 280 illustrierte, in vier Farben gehaltene Zeichnungen von hoher Qualität. Frau Krug versteht ihr Handwerk und so ist das ganze ein einziger Augenschmaus. Es ist graphisch abwechslungsreich und spannend, denn keine Seite gleicht der anderen. Hier ein Foto mit Anmerkungsblasen und erklärendem Text oberhalb, dort eine Episode ihrer Familie als Comic erzählt mit variierenden Panels, dort ein Tagebucheintrag in Sütterlin (keine Panik wird alles übersetzt) und so weiter, so weiter. Es werden alle Möglichkeiten der graphischen Darstellung genutzt, um die jeweiligen Aussagen zu unterstützen. Große Meisterschaft.
Natürlich wird in einem solchen Album keine stringente Geschichte wie in einem Roman oder einer Graphic Novel erzählt. Vielmehr ist jeder Abschnitt ein Wegmal der Spurensuche. So dachte ich zuerst, dass es sinnvoll wäre Kapitel für Kapitel mit zeitlichem Abstand dazwischen zu lesen. Eine gute Idee, aber es war so nicht durchzuführen, da der Fortgang der Recherche allzu spannend ist. Vieles auch, das mich an meine eigene Ahnenforscherei erinnert: Das Aufspüren tradierter Familiengeschichten (immer mit Vorsicht zu genießen), Dokumente, Briefe, der Atem, der einem ob des Inhalts mancher Briefe oder Zeugnisse stockt, Gedanken und Reflexion über die Dinge, die geschehen sind, und das Nachdenken darüber, wie man dieses Geschehene verstehen könnte. Dabei ist das alles keine Anklage gegen die Altvorderen, sondern ein Verstehenwollen woher man kommt. Da ist mir das »Man musste ja in die Partei, sonst wurde man einen Kopf kürzer gemacht« im Ohr. Dieses komplette Ignorieren von verbürgten Geschichtswissen, das man nur zu gut kennenlernt, wenn man in der Familie zu bohren anfängt. Vielleicht ist das eine Aufgabe der Enkelgenerationen, die emotional in der Lage ist, aus dem Schweigen, Verleugnen und Bagatellisieren der Eltern und Großeltern herauszutreten. Wenn in dem Kapitel »Giftpilze« sich der Großvater Franz-Karl mit 12 Jahren in einem mit Hakenkreuzen geschmückten Aufsatz von 1937, den die Autorin in einer Kommode entdeckt hatte, als mustergültiger Antisemit erweist, fasst es einen an. Auch das bedeutet Deutsch sein. Das Buch ist voll von solchen Momenten. Es gibt aber auch das Notizbuch einer heimwehkranken Auswanderin mit dem Katalog deutscher Dinge: Der Wald, die Wärmflasche, der Uhu und einige andere sehr heimatliche Dinge finden ihren Platz. Dieses Buch ist weit weg davon, eine Trauerveranstaltung zu sein. »Heimat« regt zum Nachdenken, zum Reflektieren und vielleicht zu Recherchen in der eigenen Familie an und ist keineswegs frei von Ironie. Und es ist ein gutes Gegengift in diesen Zeiten des Comebacks von Volkstümelei und Chauvinismus.
Sicher, dieses Buch werden vor allem wieder die Leute lesen, die es eh schon wissen. Aber es soll nicht stören, was nicht zu verhindern ist. Ich habe einen Traum: Dieses Buch in die Schulen. Und bis dahin: Kaufen, erst einmal ins Buch riechen und dann mit »Heimat« unter dem Arm ein ruhiges Plätzchen finden. Links: Die Webseite der Autorin mit Videos Beitrag in ttt – titel, thesen, temperamente (Youtube)
Ich fand es auch ganz wunderbar. Ein sehr ehrliches, spannendes und kreatives Buch. Das steht dieses Jahr auch ganz weit oben auf meiner Liste.
Danke für den Kommentar. In der Tat, »Heimat« ist ein sehr besonderes Buch.
Gern verlinke ich hier zu Deinem Blogeintrag zum Buch:
https://leseninvollenzuegen.wordpress.com/2018/10/09/review-heimat-ein-deutsches-familienalbum/
Vielen Dank, liebe Lena, für den tollen, neugierig machenden Tipp!
Wo du nur immer wieder solche Schätzchen aufspürst…. 🙂
So brauche ich, wenn ich neues Lesefutter brauche, ganz einfach nur auf deine website zu schauen …
Liebe Herbstgrüße aus dem Nebel
von Rosie
Allerherzlichsten Dank für deinen grandiosen Kommentar Rosie.
Wir gehören ja der Kriegsenkelgeneration an, deshalb immer zu haben für solche Themen. Aber aus einem anderen Grund habe ich während der Lektüre dauernd an dich denken müssen: Die künstlerisch-zeichnerische Umsetzung des Stoffes. Ein Buch für dich! Kauft es dir niemand, lege es dir unbedingt selbst unter die Nadeln.
Liebe Grüße,
hier ist Dezember ;), kalt, windig, regnerisch. Kurz: schön geht anders.