S.Fischer 1981, 302 S., ISBN: 978-3-10-048221-1, auch als TB und E-Book erhältlich.

1951, ein Jahr vor seiner Rückkehr aus seinem einstigen Exil in den USA in die Schweiz, veröffentlichte Thomas Mann seinen kürzesten Roman »Der Erwählte«. Insgesamt 3 Jahre schrieb er an diesem Werk, danach sollten bis zu seinem Tod 1955 an Bedeutenden noch der unvollendete Felix Krull und die Erzählung »Die Betrogene« folgen. Der Stoff für »Der Erwählte«, der schon im »Doktor Faustus« eine Rolle spielte, stammte aus dem Epos »Gregorius« des mittelhochdeutschen Dichters Hartmann von Aue. Dessen Quellen reichten noch weiter in der Zeit zurück. Es handelt sich um eine christliche Legende: Kindheit und Jugend des Papstes Gregor I. (540-604). Mann erzählt dieses Vers-Epos aus und bringt es aus dem Mythischen ins Psychologische. In der Tat geht es hier um heikle Themen: Inzest, Hochmut, Reue, Sühne, Vergebung. Urchristlicher Stoff, den Thomas Mann hier zu einem kleinen Juwel von Roman verarbeitet hat.

Argument mit Ariadne 2019, geb. Ausgabe, 352 S., aus dem Amerikanischen von Daisy Dunkel, ISBN: 978-3-86754-239-5
CulturBooks 2019, E-Book, ISBN: 978-3-95988-142-5 

Googelt man nach deutschsprachigen Ausgaben von Büchern der amerikanischen Schriftstellerin Tawni O’Dell, werden zwei Ausgaben desselben Buches angezeigt: »Wenn Engel brennen« bei Ariadne und eine lizenzierte E-Book-Ausgabe bei CulturBooks. Aufmerksamen amerikanischen Lesern und Leserinnen wird O’Dell spätestens seit ihrem Erfolg von »Back Roads« ein Begriff sein, zumal dieses Buch prominent verfilmt wurde. »Wenn Engel brennen« ist O’Dells sechstes Buch und ihr erster Krimi. Er führt uns in den Rostgürtel Amerikas nach Pennsylvania: In einem ehemaligen Bergarbeiterdorf liegt in einer glühenden Felsspalte ein weiblicher Teenager. Nicht nur für die örtliche Polizei ein grausiger Anblick. Seit Jahrzehnten brennen in der längst verlassenen Gegend unterirdische Minen. Diese unlöschbaren Feuer sind eine erste Metapher für all die schwelenden Konflikte in den Familien dieses surrealen und heruntergekommenen Landstriches.

Herman Melville, Moby-Dick oder Der Wal: Kurz vor der Hälfte des Romans: Erstes Wegfieren, Beinahe-Katastrophe … eigentlich wird es jetzt richtig spannend. Doch die Jagd macht eine Pause. Bis hierhin habe ich den Mythos in tiefen Zügen genossen, doch grad eben will er nicht mehr so recht in mein Leben passen. Ich komme wieder, der Walfang wird fortgesetzt.

Juli Zeh, Neujahr: Ein Mann macht Urlaub mit der Familie, kehrt am Neujahrstag bei einer Radtour zum Ort seines kindlichen Traumas zurück und weiß anschließend, was zu tun ist. Ich habe die knapp zweihundert Seiten des Romans fertig gelesen und gebe den Rat: Wer einen Roman von Juli Zeh lesen möchte, lese Adler und Engel oder Unterleuten – aber nicht diesen hier. Voraussehbar. Unstimmig. Ärgerlich.

Historischer Stadtplan aus:
Reiner Stach, Die Kafka-Biographie in drei Bänden, S.Fischer 2017

Ende November 1922 formulierte der schwer erkrankte Franz Kafka an Max Brod seinen letzten Willen: »Von allem, was ich geschrieben habe, gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler … Wenn ich sage, daß jene 5 Bücher und die Erzählung gelten, so meine ich damit nicht, daß ich den Wunsch habe, sie mögen neu gedruckt und künftigen Zeiten überliefert werden, im Gegenteil, sollten sie ganz verloren gehn, entspricht dieses meinem eigentlichen Wunsch. Nur hindere ich, da sie schon einmal da sind, niemanden daran, sie zu erhalten, wenn er dazu Lust hat.«
Wäre es also nach Kafka gegangen, wären etwa 450 Seiten geblieben. (Hätte er das wirklich so haben wollen?)

Kampa Verlag 2019, 336 S., ISBN: 978-3-311-10018-8, auch als E-Book erhältlich.

Was muss, was sollte man wissen, um dieses Buch zu lesen? Nun, Frau Olga Tokarczuk darf sich seit letztem Jahr Literaturnobelpreisträgerin nennen, sie ist Polin und zählte, inzwischen längst etabliert, vor zwanzig Jahren zu den neuen, jungen, europäischen Autorinnen. Dass sie in ihrem konservativen Heimatland mitunter hart aneckt, wie grad mit ihrem neusten Roman »Die Jakobsbücher« versteht sich von selbst. Ich war schon lange neugierig auf die Bücher von Frau Tokarczuck, nur war mir nicht ganz klar, wie ich denn anfangen sollte. Der aktuelle Roman schien mir nicht allein der Seitenzahl wegen eine zu große Herausforderung, also wählte ich nach einigem Hin und Her »Ur und andere Zeiten«. Ein Roman, der bereits 1996 in Polen erschien, im Jahr 2000 erstmals auf Deutsch im Berlin Verlag und nun bei Kampa mit der Aufschrift ›Nobelpreis‹ dezent auf der Rückseite des Buchcovers. Ich beginne also die Lektüre und »Ur und andere Zeiten« brauchte etwa eine Seite, um mich in Verzückung zu versetzen.

Hanser 2019, 336 S., ISBN 978-3-446-26408-3, auch als E-Book erhältlich.

Johann Christian Friedrich Hölderlin, 250 Jahre nachdem er geboren wurde. Die Feierlichkeiten zu diesem Jubiläum nehmen keine Ausmaße an, wie sie es bei Beethoven taten. Der ist auch heute noch populär, Hölderlin eher schwierig. Der Dichter strebte nach Idealen, Neuschaffung eines Mythos, griechische Götter unter uns, es geht permanent ums Große und Ganze. Solches hohe Lied klingt recht fremd für heutige Ohren. Oder aber war Hölderlin gar ein Revoluzzer, ein überspannter Poet, ein Wahnsinniger im Turm? Schelling, Hegel, Hölderlin, der Freundesbund, deutscher Idealismus, Streben nach Freiheit. Philosophie und Poesie von Männern, die alles wollten. Blättere ich mich durch Hölderlins Texte, stoße ich auf Hymnisches, immer wieder Klagegedichte, die Elegien, Sehnsucht nach Verschmelzung, Griechen überall, Hölderlins Griechen. Das kann schon ziemlich nerven. Dann aber plötzlich zeitlose Stellen wie das bekannte »Wo aber Gefahr ist, wächst/ das Rettende auch«, die Turmgedichte, die mich schon immer seltsam berührten. Ich brauche Hilfe und greife zu Altbewährten: Einer Biographie von Rüdiger Safranski.

Epuli 2020, 188 S., ISBN: 9783750277472.

Autorin Safeta Obhodjas floh 1992 vor den ethnischen »Säuberungen« aus ihrer Heimat in Bosnien und Herzegowina und lebt heute in Wuppertal. Schon 1997 begann sie, auf Deutsch zu schreiben. Begonnen aber hatte alles in der Nähe von Sarajevo: Das Dilemma der Zugehörigkeit war und ist ihr großes literarisches Thema. Slawische Herkunft, muslimische Wurzeln, Frau Obhodjas weiß, wovon sie spricht und schreibt. Aufmerksam wurde ich auf die Autorin, als ich ihren Roman »Die Bauchtänzerin« von 2015 las. Dieser Roman spielt überwiegend in Bosnien, der aktuelle, ich erlaube mir, ihn kurz »Schwesternliebe« zu nennen, hat seinen Schauplatz in Deutschland und handelt von einer jungen Frau die sich aus einer muslimischen Großfamilie emanzipiert und von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Schauplätze, Herkünfte, Figuren ändern sich, das Thema bleibt der sogenannte »Culture Clash«.

Suhrkamp 2018, 252 Seiten, ISBN: 978-3-518-42824-5 , auch als  eBook erhältlich.

An guten Tagen sind es 20 Minuten in der Früh im Bus, eine knappe Stunde am Abend, die ich an einem Wochentag einigermaßen konzentriert lesen kann. Eigentlich ideal für ein Buch, das sich in 12 Kapiteln, eingebettet von Vorwort, Einleitung und Personen-, Bild- und Quellenverzeichnis, gliedert. Jedes der 12 Kapitel enthält 16 Seiten Text und eine Art schwarzes Vorsatzblatt, auf dem Schwarz auf Schwarz, schräg ins Licht gehalten sichtbar, Zeichnungen oder Bilder zum Thema des folgenden Textes dargeboten werden. So wird aus den Notwendigkeiten der Buchbindung die gleiche Länge der Abschnitte erzwungen. Die in Greifswald geborene Judith Schalansky erzählt von untergegangen, verlorenen, ausgestorben Dingen. Von Verlusten. Einem Atoll, das sich der Pazifik zurückgeholt hat, einem Einhorn, dem Palast der Republik, einem ausgestorbenen Tiger, den verlorenen Stellen in den Liedern der Sappho und so einiges mehr. Kunterbunt die Themen, wie in einem Setzkasten. Gleichzeitig genormt durch die gleiche Textlänge, dem schwarzen Vorsatzblatt und den kursiv gedruckten Vorabinformationen zu gleichsam Geburt und Tod der beschriebenen Verluste. Der Text selbst in einem bisweilen ein wenig manierierten, gesetzten und sich dem Gegenstand jeweils gänzlich individuell nähernden Ton. »Verzeichnis einiger Verluste« ist ein sehr eigens, einzigartiges Buch.

Atrium 2018, 768 S., aus dem Englischen von Sabine Roth und Nikolaus Stingl, 978-3-85535-017-9 (als Hardcover, Taschenbuch oder E-Book erhältlich)

Im 64. Jahr seiner Regentschaft stirbt der japanische Kaiser Hirohito. Zeitgleich im Januar 1989 wird in Tokio ein siebenjähriges Kind entführt. Die Arbeit der Polizei verläuft nicht ohne Pannen und am Schluss ist das Kind tot, das Lösegeld verschwunden. Es wäre eine wichtige Spur gewesen, hätte man die Aufzeichnung der Stimme des Entführers nicht vermasselt. So bleibt es ein ungelöster Fall mit dem Aktenzeichen 64. 2002: Nicht ganz freiwillig ist Mikami Pressedirektor der örtlichen Polizei, denn er fühlt sich eigentlich der Kriminaluntersuchung zugehörig. Mikami ist in Nöten: Seine Tochter ist verschwunden, in der Ehe kriselt es nicht nur deswegen und in der Arbeit wird er gemobbt. Er soll den Besuch des Generalinspekteurs vorbereiten, der just am Schauplatz des ungelösten Verbrechens von 1989 Rauchopfer darbringen will. In Verwaltung, Kriminaluntersuchung und Presse herrschen hellste Aufregung und ein einziges Hauen und Stechen.

dtv, München 2019, ISBN 9783423281973, 288 Seiten. Deutsche Erstausgabe, mit einem Nachwort von Max Czollek, aus dem amerikanischen Englisch von Pieke Biermann. Auch als E-Book erhältlich.

Nun aber flott, denn ein Buch hätten wir noch für dieses Jahr. Fran Ross wurde 1935 in Philadelphia/USA geboren. Sie war, wie ihre Romanheldin Christine ›Oreo‹ Clark, die Tochter eines jüdischen Vaters und einer afroamerikanischen Mutter. Sie arbeitete als Journalistin und Korrekturleserin, veröffentliche 1974 ihren einzigen Roman ›Oreo‹, der seinerzeit Zeit kaum Aufmerksamkeit erlangte. Mit grad 50 Jahren verstarb Fran Ross 1985 an Krebs. Dieser Roman wurde im Jahr 2000 in Amerika mit großem Erfolg neu aufgelegt und liegt seit 2019 auch im deutschsprachigen Raum in großartiger Übersetzung von Pieke Biermann vor. Die Übertragung ins Deutsche war sicher kein Kinderspiel, denn die Autorin mischte in ›Oreo‹ Jiddisch mit Südstaaten-Slang und Fantasiesprache, griechische Theseus Sage mit abgedrehter, absurder Handlung, politisches Statement mit Trash. Der Romanheldin Lebensmotto kann man folgerichtig lesen als »Nemo me impune lacessit«, als »Niemand reizt mich ungestraft«, als »Mir saacht kein Nigger nich, was ich zu tun und zu lassen hab!«. Was ein irres Buch, ein Höhepunkt meines Lesejahres 2019.