Fischer 2009, 896 S., ISBN: 978-3-596-90209-5, auch als E-Book erhältlich.
Da war einiges los in meinen 10er Jahren: 1969 die Mondlandung, 70 die WM in Mexiko und 1971 schließlich »Die Frau in Weiß«, ein Fernsehdreiteiler, der die bundesrepublikanischen Straßen leerräumte, ein Straßenfeger eben. Schaut man sich auf Youtube diese Verfilmung des Wilkie-Collins-Klassikers an, so mag dieses Fernsehstück heutzutage nicht mehr recht zünden. Und der Roman? Die Wiederentdeckung dieses Schauerromans aus der viktorianischen Zeitepoche darf sich zu großen Teilen Arno Schmidt auf die Fahnen schreiben. 1962 übersetze er die rund 800 Seiten und nach anfänglichen Bedenken seitens des Verlags wegen des Umfangs kam »Die Frau in Weiß« ungekürzt und in der Übertragung von Arno Schmidt 1965 auf den Markt. Das Buch wurde ein Bestseller (wie auch das englische Original bei seiner Erstveröffentlichung 1860) und, wenn man so will, Arno Schmidts erfolgreichstes Buch. Und heute? Ich habe (leider) ein recht schlechtes Gedächtnis und so kannte ich den Plot dieses Klassikers nur noch schemenhaft. Gute Voraussetzung aber, um die Probe aufs Exempel zu probieren: Funktioniert »Die Frau in Weiß« auch heute noch?
Über Wilkie Collins sollte man wissen, dass er 1824 geboren wurde, als Kind recht kränklich war und mit den Eltern Reisen nach Italien unternahm. Nach mehreren Versuchen, in verschiedenen Berufen Fuß zu fassen, fand er seine Erfüllung als Schriftsteller. Er verfasste eine Biografie des eigenen Vaters (!) und wurde später Mitarbeiter und Freund des großen Charles Dickens, in dessen Schatten er stets stand. Berühmt wurde er mit seinen Detektivromanen (z. B. Der Monddiamant, 1868) und Mystery Thriller. Gesellschaftskritik und psychologische Komplexität hatten ihren Platz in seinen besten Romanen.
Für LeserInnnen, die tatsächlich noch nie etwas von »Die Frau in Weiß« gehört oder gelesen haben, eine kurze Einführung in den Beginn der Handlung: 1849: Der Zeichenlehrer Walter Hartright tritt per Fußmarsch seine neue Stelle in Cumberland an. Auf dem Weg dorthin trifft er auf eine offensichtlich verwirrte, weißgekleidete Frau (Anne Catherick), die behauptet auf der Flucht aus einem Irrenhaus, in das sie unberechtigter Weise gesperrt wurde, zu sein und unbedingt nach London müsse. Soweit ihm möglich hilft Hartright der Frau. Anschließend tritt er seinen Dienst in Limmeridge House an. Er trifft dort auf Mr. Frederick Fairlie und seine beiden Nichten Laura Fairlie und ihre Halbschwester Marian Halcombe, deren Zeichenlehrer er werden soll. Als echt viktorianischer Gentleman und als ein Mann der Ästhetik kommt Hartright zu einem eindeutigen Urteil: hier zum Verlieben schön (und der Frau in Weiß erstaunlich ähnlich), dort verblüffend hässlich mit interessanten Wesenszügen. Tja, so geht es also zu, nix mit Gendergerechtigkeit, die Frau als erwachsenes Kind, aber Collins wäre nicht Collins, würde er die Verhältnisse im Verlaufe der weiteren Handlung nicht ordentlich durcheinanderzuwirbeln. Wir sind noch ganz am Anfang im Roman und eine Unzahl von Intrigen, Verbrechen, Leiden und Erlösung, enormen Zufällen und detektivischen Spürsinn sind garantiert.
Aufgebaut ist der Roman auf Berichte unterschiedlicher Protagonisten. Im Wesentlichen sind das die Ausführungen von Walter Hartright, Marian Halcombe, Frederick Fairlie und Graf Fosco. Graf Fosco, mit vollem Namen Isidor Ottavia Baldassare Fosco. Wie der Name so ist so ziemlich alles an dieser Figur voluminös. Die Körperfülle, seine Intelligenz, seine Verschlagenheit und Skrupellosigkeit. Eine irre, faszinierende Figur. Zusammen mit Laura Fairlies späteren Ehemann Sir Percival Glyde der große Gegenspieler von Hartright und Halcombe. Marian Halcombe ist die nächste ganz starke Person in diesem Stück. Sie schallt sich ständig selbst in ihrem Handeln und Denken der Frauenart, verflucht die Kleiderordnung für ihr Geschlecht und vollführt dabei die tolldreistesten Handlungen. Was wäre der blasierte Hartright (irgendetwas zwischen Drache und Fuchsberger, oh je) ohne diese Marian. She is my hero! Überhaupt ist das ein raffinierter Dreh von Collins: Im Erzählton durch und durch viktorianisch-konservativ sind es die besten Figuren, die eben diese ungeschriebenen Gesetze permanent durchbrechen. Ein anderes Beispiel: Nach Lektüre des Briefes von Frau Catherick, der Mutter von Anne, spukt Hartright Gift und Galle und spricht von schamloser Verderbtheit. Frau Catherick hatte nicht allzu feinfühlig geschrieben, grad gegenüber ihrer Tochter, aber klar und deutlich ihre Lage und die Gründe dafür dargelegt. Wohl zu viel für einen auf der Höhe der Moral stehenden Helden. Seine geliebte Laura und Anne Catherick bleiben ähnlich fad und moralinsauer wie er. Hingegen der wütende Glyde oder der unendlich am Geräusch leidende Mr. Frederick Fairlie: »Warum – ich frage Jedermann – warum gerade mich plagen? Kein Mensch beantwortet mir diese Frage, und kein Mensch läßt mich in Ruhe.« In seinem Bericht kippt das Ganze fast schon in Satire. Es ist ein Vergnügen und extrem unterhaltend diesem Personal über fast 900 Seiten folgen zu dürfen.
Mein Urteil ist eindeutig: Allein wegen dieser unsterblichen Figuren und dem Collinschen Dreh: Wer es bis jetzt noch nicht getan, sollte »Die Frau in Weiß« lesen. Und die Vergesslichen sollten wieder lesen und Neues entdecken. Oder um es mit dem großen Übersetzer Arno Schmidt zu sagen: »Enter Conte Fosco!*«
*Arno Schmidt: Enter Conte Fosco!. In: Arno Schmidt: Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe III. Essays und Biografisches, Bd. 4. Zürich 1995: Haffmans. ISBN: 3-251-80032-9, S. 426