Deutschland

Kiepenheuer&Witsch 2020, 288 S., ISBN: 978-3-462-05256-5

Thomas Hettche ist Jahrgang 1964 und hat »Der Fall Arbogast«, »Die Pfaueninsel« (dafür erhielt er den Wilhelm-Raabe-Preis) und viele andere geschätzte und vielbeachtete Romane geschrieben. Das Thema seines jüngsten Buches ist die Augsburger Puppenkiste. Fast ein Selbstläufer möchte man meinen, denn wer kennt sie nicht: Jim Knopf und Lukas, die Prinzessin Li Si, das Urmel, die traurigen Ohrwürmer des Seele-Fanten, Kalle Wirsch und so fort – eine schier unendliche Reihe unvergessener Figuren des legendären Marionettentheaters aus Augsburg. Fasziniert hat die Puppenkiste aus Augsburg auch mich und ich lade bis heute ab und an bei Kaffee und Kuchen das Urmel, Kim Knopf oder Kalle Wirsch zu mir nach Hause ein. Von der Kraft der Phantasie in dunkler Zeit handelt dieses Buch, so verspricht der Verlag. Und so war ich sehr gespannt auf »Herzfaden«, den Roman der Augsburger Puppenkiste. 

Hanser 1993, dtv 2006, 383 Seiten, beide Ausgaben sind antiquarisch erhältlich. 

1865 wird Wilhelm Raabes Erzählung »Else von der Tanne« veröffentlicht. Ein pessimistisches, ein wenig rührseliges Kunstwerk aus Raabes Übergangszeit zwischen Früh- und Spätwerk. Es handelt von einem armen Pastor in einem Dorf in der Nähe des Südharzes direkt nach Ende des Dreißigjährigen Kriegs. Zwei Flüchtlinge aus Magdeburg, Vater und Tochter, erreichen den Ort. Else hilft dem Pfarrer aus einer tiefen Sinnkrise, doch sind nicht nur Land und Besitz der Menschen verwüstet, auch die Seelen der Menschen sind es. Auf grad 40 Seiten wird hier das, was Krieg aus Menschen macht, verhandelt. Vielleicht ein wenig kitschig hier und da, aber insgesamt doch ein kleines Meisterstück aus Raabes Frühzeit. So ohne Weiteres hätte ich die Erzählung nicht aus dem Regal geholt, aber nachdem ich gestern die Biographie über Wilhelm Raabe von Werner Fuld fertig gelesen hatte, war mir danach, dieser Empfehlung Fulds nachzugehen: ein Treffer.

PalmArtPress 2020, 350 S., ISBN: 978-3-96258-050-6

Ein Wenderoman, ein Berlinroman, ein Künstlerroman, über 45 Jahre nach Plenzdorfs »Die neuen Leiden des jungen W.« – eine Menge Zuschreibungen von Verlag und Autor. Ich lasse das erst einmal alles weg und beginne mit dem Lesen. Frederic Wianka hat also mit »Die Wende im Leben des jungen W.« sein Debüt gegeben. Vom Verlag erfahren wir, dass der Autor in Potsdam und Schwerin aufgewachsen ist und, nicht ohne Ironie vermerkt, ihm am 9. November 1989 der Ausreiseantrag genehmigt wurde. (Diese Daten verraten uns, dass er ein paar Dinge mit dem Helden seines Romans gemeinsam hat.) Dann erste Lesungen 2009, ein Literaturpreis 2010, 2020 »Die Wende im Leben des jungen W.«. Genug vom Autor, legen wir also los mit dem Buch.

DVB Verlag 2020, 380 S., ISBN: 3903244031

Maria Lazar wurde 1895 in Wien in eine großbürgerliche, jüdische Familie, die früh zum Katholizismus konvertiert war, hineingeboren. Schon 1920 veröffentlichte Maria Lazar ihren ersten Roman »Die Vergiftung«, eine Abrechnung mit der bürgerlichen Gesellschaft. Es folgten Bühnenstücke und der bis dato nur in einer gekürzten englischen Exil-Ausgabe existierende Roman »Leben verboten!« und schließlich 1937 »Die Eingeborenen von Maria Blut«. Diese drei Romane sind lediglich ein Ausschnitt des Schaffens der Autorin und wurden in den letzten Jahren im österreichischen DVB-Verlag neu aufgelegt. DVB bedeutet »Das vergessene Buch« und passender könnte für Maria Lazar, die aufgrund einer unheilbaren Erkrankung 1948 in Stockholm sich das Leben nahm, dieses Motto nicht sein. Heuer veröffentlichte der Verlag mit seinem Verleger Albert C. Eibl »Leben verboten!« – das erste Mal in seiner Originalfassung von 1932.

Aufbau Verlag 1998 (2. Aufl. 2018), Große Brandenburger Ausgabe, Das erzählerischer Werk, Band 15, 536 S., ISBN: 978-3-351-03127-5 

›Effi Briest‹ von Fontane also: Wir hätten da eine arrangierte Ehe Ende des 19. Jahrhunderts zwischen der 17-jährigen Tochter des Ritterschaftsrats von Briest und seiner Frau Luise aus Hohen-Cremmen im Havelland mit dem 20 Jahren älteren Landrat Innstetten aus Kessin in Hinterpommern. »Ich merke das auch; sie sind hier so streng und selbstgerecht. Ich glaube, das ist pommersch.« bemerkt Effi später. Wenige Jahre danach, inzwischen hat der berufliche Aufstieg Innstettens bei Bismarck das Paar mit Kind und Personal nach Berlin ziehen lassen, hat Effi endlich begonnen, sich in ihr Leben einzufinden. Da wird ihr eine läppische Affäre zum Verhängnis. Und nicht nur ihr: Ehrenkodex und gesellschaftliche Konvention zerstören, was langsam zu wachsen schien. Ich habe mich gefragt, was Fontanes berühmtester Roman mir heute sagen kann, und habe das Buch in der ›Grossen Brandenburger Ausgabe‹ im Aufbau-Verlag gelesen.

Es ist der 9.11., das Datum der Reichsprogromnacht 1938. Mathilde und Fischel Rosenkranz, die seit 1910 Am Watmarkt in Regensburg wohnen, werden verhaftet, später nach Sosnowitz interniert und 1940 in einem der Vernichtungslager ermordet. Ich gehe heute also die Stolpersteine polieren. Als ich grad fertig bin, öffnet der Dampfnudel-Uli nebenan. Uli Deutzer und seine Angestellte stehen im Türrahmen und freuen sich über die hergerichteten Stolpersteine für die früheren Bewohner des Nachbarhauses. 

Von anderen höre ich manchmal, es sei alles doch ein wenig übertrieben mit den Juden. Alles so lange her doch. Ich antworte ihnen: Wie könnte man diesen Horror in Deutschland vergessen? Wenigstens erinnern, wenigstens das.

Piper Verlag 2019, 192 S., EAN 978-3-492-05981-7

Manchmal ist das so: Ich beende ein größeres Leseprojekt und freue mich auf eine leichte Lektüre danach. Oft steht dieses Buch schon Wochen vorher fest. Literarisches Auslaufen sozusagen. Es kann allerdings passieren, dass dieses Buch mich wider Erwarten so fasziniert, dass es hier nicht unerwähnt bleiben darf. So ein Buch ist Tante Martl von Ursula März. Die Autorin ist mir lange bekannt, da ich regelmäßige Hörerin von Diwan – Das Büchermagazin auf Bayern 2 bin und Frau März dort des Öfteren als Buchkritikerin auftritt. Auch ihr dieses Jahr erschienener Roman Tante Martl wurde dort besprochen und ich merkte mir vor, dass dieses Buch etwas für mich sein könnte. Der Roman ist biographisch angelegt und handelt von Ursula März Tante, die als dritte Tochter ihrer Eltern, die sich unbedingt einen Stammhalter männlichen Geschlechts gewünscht hätten, im Juni 1925 geboren wurde. Ihre zugedachte Rolle war nicht die eines Nesthäkchens, sondern die der ungeliebten Tochter (weil kein Junge), die ihre Schuld abzutragen hatte: Sie hatte die Eltern bis zu deren Tod zu pflegen, lebte ein Leben lang in deren Haus in einer westpfälzischen Kleinstadt und heiratete nie. Ein entbehrungsreiches, armes Leben? So ganz nicht.

1975 kam ich mit meiner Familie nach Gifhorn, das sich das Südtor zur Lüneburger Heide nennt. Brandgeruch lag in der Luft. »Endlich mal ziehen wir in eine Stadt, in der etwas los ist,« dachte ich (wir kamen aus Ostwestfalen). Ich war noch nicht ganz fünfzehn, da darf man sich so einen Unfug zusammenreimen. Es war die bis dahin größte Brandkatastrophe der Bundesrepublik und es starben Menschen. Keine sieben Jahre später entfloh ich von dort. Man hielt mich für verrückt, ich aber wollte möglichst weit weg: Ich zog nach Regensburg, nach Ostbayern, in die Oberpfalz. Dort begann meine Liebe zum Autor Arno Schmidt. Der Schmidt, der 1975 in Bargfeld, eine halbe Autostunde nordnordwestlich von Gifhorn entfernt, um seine Bücher und Archive bangte. Der Mann war längst eine Art Geheimtipp bei Linken wie bei Büchernarren. Er war gegen Adenauermief und Wiederaufrüstung, hatte eine Art sperrige Geheimsprache, war antiklerikal und schimpfte gegen alles und jeden, kurz: Arno Schmidt war anders als die anderen und ziemlich angesagt.

Schöffling und Co. Verlag, Frankfurt am Main 2019, 900 Seiten, ISBN 9783895614934

Wer sich für Literatur interessiert und die einschlägigen Sendungen und Feuilletons zum Thema verfolgt, dem wird nicht entgangen sein, dass es in diesem Jahr eine bemerkenswerte Wiederentdeckung zu bejubeln gab. Dem jüdischen Leben in Berlin, das die Nazis ausgelöscht haben, würde ein Denkmal gesetzt werden, wir hätten hier die jüdische Buddenbrooks zu feiern, usw., usw. Der 1951 erschiene Riesenroman der 1894 in Berlin geborenen und 1982 in London gestorbenen Schriftstellerin und Journalistin Gabriele Tergit, die für ihre Gerichtsreportagen bekannt war, wurde dieses Jahr regelrecht abgefeiert. »Effingers« ist ein Panorama der besseren Gesellschaft in Berlin über 4 Generation, von 1878 bis zum Holocaust, in 151 Szenen. Gabriele Tergit schrieb an diesem Werk und zum Teil unter großen Schwierigkeiten von 1933 bis 1950. Zeit ihres Lebens blieb der Erfolg aus, jetzt scheint er da zu sein. Auch ich habe die 900 Seiten gelesen und bin beeindruckt.

Herausgegeben von Susanne Fischer. Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Suhrkamp Verlag 2018, 215 Seiten, ISBN: 978-3-518-80420-9

Alice Schmidt war eine Dichter-Ehefrau. Ihr Name ist eng mit dem ihres Ehemanns Arno Schmidt, diesem Solitär der deutschen Nachkriegsliteratur, verbunden. Das Paar heiratete 1937 in Lauban und lebte bis zum Ende des Krieges in Greiffenberg in Schlesien. Nach dem Krieg wohnten die Schmidts bis 1950 in Cordingen (ein Heidekaff, vom späteren Bargfeld nicht zu weit entfernt) in einer Flüchtlingsunterkunft. Ein Zimmer, wenig zu Essen, kaum Einkommen, unsichere Zukunft und stets vor Augen, eine Dichterexistenz führen zu müssen. Zwischen 2004 und 2011 wurden von Susanne Fischer (Literaturwissenschaftlerin, im Vorstand der Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld) die Tagebücher 1954, 1955 und 1956 herausgegeben, letztes Jahr die Tagebücher 1948/49. Diese frühen Tagebücher Alice Schmidts dokumentieren den Beginn der Schriftstellerkarriere von Arno Schmidt und sind deshalb für die Leserschaft seiner Bücher von großem Interesse. Sie zeigen den unerschütterlichen Glauben Alice Schmidt an das schriftstellerische Genie ihres Ehemanns, aber zeugen auch davon, dass eine Anbetung des Gatten als Person nicht stattfand.