Lit: Belletristik

Empfohlene Ausgabe: Wilhelm Raabe, Das Odfeld, herausgegeben von Hans-Jürgen Schrader, Insel Taschenbuch, 227 S., ISBN: 3-458-32586-7, antiquarisch noch recht gut zu erreichen. Oder die Reclam-Ausgabe.

Anfang November 1761, mitten im Chaos des Siebenjährigen Krieges stehen der alte Magister Noah Buchius und der ruppige Klosteramtmann von Amelungsborn am Rande des Odfelds im Weserbergland und werden Zeugen eines unheimlichen Spektakulums. Zwei riesige Rabenschwärme fallen übereinander her und befehden sich ohne Gnade. Buchius sieht den Verlauf der tierischen Luftschlacht als ein Zeichen: Der geliebte Herzog Ferdinand von Braunschweig wird siegen und die Menschen vor den einfallenden Franzosen schützen. Wir sind im dritten von fünfundzwanzig Kapiteln und wissen bereits, dass das berühmte Gymnasium von Amelungsborn nach Holzminden verlegt wurde und man den schrulligen Schulmeister Buchius zurückgelassen hat. Er lebt in einer Klosterzelle, leidlich versorgt von dem Amtmann, der mit Familie und Gesinde ebenfalls vor Ort ist. Die Lage wird immer brenzliger, die Gegend und damit auch das Kloster stehen mitten in der Kampfzone. Wir Leser und Leserinnen von »Das Odfeld« bleiben für die nächsten Stunden im Geschehen.

Vandenhoeck & Ruprecht 1970, Braunschweiger Ausgabe, Band 16;
Antiquarisch gut erreichbar: Insel 1985, Werke in Einzelausgaben, Band 5, 195 S., ISBN: 3-458-32585-9;
Braunschweiger Ausgabe als PDFs: digi20.digitale-sammlungen.de

Wilhelm Raabes veröffentlichte seine Langerzählung »Im alten Eisen« 1887. Sie gehört zu seinem Spätwerk, also den guten, knappen 200er Seiter, die nie ein großer Erfolg beim breiten Publikum wurden, aber heute von großem Interesse sind oder sein könnten. Diese Romane oder langen Erzählungen, »Stopfkuchen«, »Das Odfeld«, »Die Akten des Vogelsangs« und andere sind literarisch viel zu interessant, um in Vergessenheit zu geraten. Resigniert ob des Desinteresses des deutschen Lesepublikums, dem ihr Humorist und Idylliker abhandenkam, schrieb Raabe in dieser Periode für sich und sein literarisches Konzept. Ein Glücksfall für uns heutigen Leserinnen und Leser.

Hanser Verlag 2009, 576 S., ISBN 978-3-446-23290-7, aus dem amerikanischen Englisch von Michael Walter und Daniel Göske.

Herman Melville brauchte nach »Moby-Dick« und »Pierre« dringend einen Erfolg, um vielleicht doch nicht im Rinnstein zu sterben. »The Piazza Tales« erschienen 1856 als Buch und enthielt fünf Kurzgeschichten, die Melville zwischen 1853 und 1855 für das New Yorker »Putnam’s Magazin« geschrieben hatte. Die »Geschichten von der Galerie« umfassen die extra als eine Art Einleitung geschriebene Erzählung »Die Galerie«, dann »Bartleby, der Lohnschreiber«, »Benito Cereno«, »Der Blitzableitermann«, »Die Encantadas« und »Der Glockenturm«. Ferner enthält der vorliegende Band aus dem Hanser Verlag die berühmte Erzählung von »Billy Budd, Matrose«. Dazu gibt es einen detaillierten Anmerkungsapparat, ein Nachwort von Daniel Göske und auch eine Zeittafel zum Leben von Herman Melville fehlt nicht.

Klöpfer, narr 2019, 268 S., ISBN 978-3-7496-1003-7

Schaut man sich in Wikipedia nach dem Stichwort »Sibyllinische Bücher«, dieser legendären griechischen Sammlung von Orakelsprüchen, um, kommt man schnurstracks auf Sibylle von Cumae und den letzten römischen König Tarquinius Superbus. Nimmt man den griechischen Gott Phoebus Apollon dazu, hat man im Wesentlichen das Personal beisammen, mit dem Sibylle Knauss ihre Zeitreise von der legendären Zeit der griechischen Götter bis zu unserer wohl nicht mehr allzu weit entfernten düsteren Zukunft antreten lässt. Die Autorin will unterhalten, das ist ihr Anspruch an Literatur. Und so wagt sie immer wieder Neues, wie auf dem Buchdeckel verraten wird. Hier also ein Buch über Sibylle von Cumae. Wir sind über 500 Jahre vor Christi Geburt: Sibylle hat eine Liaison mit dem Gott Apollon und als Folge wird sie eine Seherin und »Eine unsterbliche Frau«.

Kiepenheuer&Witsch 2020, 288 S., ISBN: 978-3-462-05256-5

Thomas Hettche ist Jahrgang 1964 und hat »Der Fall Arbogast«, »Die Pfaueninsel« (dafür erhielt er den Wilhelm-Raabe-Preis) und viele andere geschätzte und vielbeachtete Romane geschrieben. Das Thema seines jüngsten Buches ist die Augsburger Puppenkiste. Fast ein Selbstläufer möchte man meinen, denn wer kennt sie nicht: Jim Knopf und Lukas, die Prinzessin Li Si, das Urmel, die traurigen Ohrwürmer des Seele-Fanten, Kalle Wirsch und so fort – eine schier unendliche Reihe unvergessener Figuren des legendären Marionettentheaters aus Augsburg. Fasziniert hat die Puppenkiste aus Augsburg auch mich und ich lade bis heute ab und an bei Kaffee und Kuchen das Urmel, Kim Knopf oder Kalle Wirsch zu mir nach Hause ein. Von der Kraft der Phantasie in dunkler Zeit handelt dieses Buch, so verspricht der Verlag. Und so war ich sehr gespannt auf »Herzfaden«, den Roman der Augsburger Puppenkiste. 

Wieser 2020, 380 S., ISBN: 978-3-99029-438-3, aus dem Tschechischen von Raija Hauck.

Alena Mornštajnová ist eine tschechische Schriftstellerin, Jahrgang 1963, die mit ihrem dritten Roman »Hana« einen immensen Erfolg hatte und immer noch hat. Seit dessen Erscheinen 2017 in Tschechien ist sie in ihrer Heimat sehr bekannt und wurde für »Hana« mit dem tschechischen Buchpreis ausgezeichnet. Inzwischen wurde ihr Bestseller in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Dieser Roman spielt zu Beginn in einer kleinen Stadt in Mähren im Jahre 1954 und deckt im weiteren Verlauf einen Zeitraum von den 1930er Jahren bis Anfang der 1960er Jahre ab. Die Erzählerinnen ist am Anfang des Romans Mira, die eigentliche Heldin aber ist die seltsame Tante Hana. Es geht in diesem Buch um jüdisches Leben und dessen Auslöschung in einem Ort in der Tschechoslowakei, über eine Epidemie, über Familienkonstellationen über vier Generationen, über Schicksal und Zufall, Verzweiflung, Mut und Lebenswillen. Einer der außergewöhnlichsten Romane, die ich in letzter Zeit gelesen habe.

Hanser 2020, 800 S., ISBN: 978-3446267695, neu übersetzt von Elisabeth Edl.

Gustave Flaubert wurde 1821 in Rouen, Frankreich geboren. Er starb 1880 in Croisset bei Rouen. Berühmt und wegweisend wurden seine Romane aufgrund seines objektivierenden Erzählstils: Keine Urteile, kein Erzähler, der in die Handlung eingreift. Die Figuren sprechen für sich und Widersprüche sind erwünscht. Dieses Credo verlangt eine besessene Recherche, für die der Autor berüchtigt war: Die beschriebenen Dinge müssen »richtig« sein, die Details haben zu stimmen. Gleichzeitig versuchte Flaubert die Sprache des Romans so nah wie möglich der Lyrik anzugleichen, der Rhythmus der Sprache ist entscheidend, jeder Satz jedes Wort hat seine Bedeutung. Kurz: Flaubert hat im Roman Neues geschaffen. Elisabeth Edl hat nach »Madame Bovary« nun auch das zweite große Meisterwerk des Franzosen übersetzt: Aus »Die Schule des Herzens«, »Lehrjahre des Gefühls« und Varianten davon wurde nun »Lehrjahre der Männlichkeit«. Ein erstes Thema für alle Kritiker der gefeierten Neuübersetzung.

Berenberg 2020, S. 168, ISBN 978-3-946334-76-7, auch als E-Book erhältlich.

Wer sagt eigentlich, dass in diesem Blog grundsätzlich nur Bücher, die aus der Mode sind, besprochen werden? Wilhelm-Raabe-Preisträgerin 2020, nominiert für den Deutschen Buchpreis 2020: Viel aktueller geht es nicht. Die Rede ist von Christine Wunnicke und ihrem in diesem Jahr erschienen wunderlich-kleinen Roman »Die Dame mit der bemalten Hand«. Frau Wunnnickes »Masche« ist es, tatsächliche Personen der Zeitgeschichte in tatsächlich existierende Orte zu senden, um diese in erfundenem Drumherum zu verwickeln. Auf diese Weise entsteht ein Spiel mit Historie und Möglichkeit, mit Fakten und fantastischer Komödie. So hat die Autorin es in »Katie«, so hat sie es in »Der Fuchs und Dr. Shimamura« gemacht. Das hier vorgestellte, wunderbar aufgemachte Buch (Extralob dem Berenberg Verlag) hat 168 Seiten und die darin erzählte Begegnung zweier Männer der Wissenschaft ist in 12 Kapitel unterteilt.

Rowohlt 2019, 1264 S., ISBN: 978-3-498-04537-1, übersetzt von Melanie Walz.

Da lese ich also ein 1200-seitiges Buch, Zeile für Zeile, nur um am Ende das Gefühl zu haben, es sofort noch einmal von vorne lesen zu müssen, um noch mehr in diesem Roman zu entdecken. Ach, wäre ich nur eine gewissenhafte Leserin mit genügend Zeit und Muße. So bleibt es vorerst bei dieser ersten Lektüre, voller Staunen, Bewunderung und Freude an diesem Roman. George Eliot hieß eigentlich Mary Ann Evans, wurde 1819 in der Nähe von Coventry geboren und verstarb 1880 in London. Ihr bemerkenswertestes Werk »Middlemarch« erschien zuerst in Fortsetzung 1870 bis 1871. Es war ihr vorletzter Roman und es gab noch mehrere durchgesehene Ausgaben zu ihren Lebzeiten. In Deutschland hatte das Buch bisher nicht den Erfolg wie z. B. die Bücher von Jane Austen oder Charles Dickens. Ein Grund hierfür war wohl die Schwierigkeit, die spezielle Eliotsche Ironie angemessen ins Deutsche zu übertragen. Zum Glück nahm sich Melanie Walz dieser Herausforderung an und seit letztem Jahr haben wir ein »Middelmarch« vorliegen, dass es den der englischen Sprache nicht (ausreichend) Kundigen den ungetrübten Genuss dieses wunderbaren Buches ermöglicht. 

PalmArtPress 2020, 350 S., ISBN: 978-3-96258-050-6

Ein Wenderoman, ein Berlinroman, ein Künstlerroman, über 45 Jahre nach Plenzdorfs »Die neuen Leiden des jungen W.« – eine Menge Zuschreibungen von Verlag und Autor. Ich lasse das erst einmal alles weg und beginne mit dem Lesen. Frederic Wianka hat also mit »Die Wende im Leben des jungen W.« sein Debüt gegeben. Vom Verlag erfahren wir, dass der Autor in Potsdam und Schwerin aufgewachsen ist und, nicht ohne Ironie vermerkt, ihm am 9. November 1989 der Ausreiseantrag genehmigt wurde. (Diese Daten verraten uns, dass er ein paar Dinge mit dem Helden seines Romans gemeinsam hat.) Dann erste Lesungen 2009, ein Literaturpreis 2010, 2020 »Die Wende im Leben des jungen W.«. Genug vom Autor, legen wir also los mit dem Buch.