Lit: Belletristik

Kiepenheuer&Witsch 2020, 288 S., ISBN: 978-3-462-05256-5

Thomas Hettche ist Jahrgang 1964 und hat »Der Fall Arbogast«, »Die Pfaueninsel« (dafür erhielt er den Wilhelm-Raabe-Preis) und viele andere geschätzte und vielbeachtete Romane geschrieben. Das Thema seines jüngsten Buches ist die Augsburger Puppenkiste. Fast ein Selbstläufer möchte man meinen, denn wer kennt sie nicht: Jim Knopf und Lukas, die Prinzessin Li Si, das Urmel, die traurigen Ohrwürmer des Seele-Fanten, Kalle Wirsch und so fort – eine schier unendliche Reihe unvergessener Figuren des legendären Marionettentheaters aus Augsburg. Fasziniert hat die Puppenkiste aus Augsburg auch mich und ich lade bis heute ab und an bei Kaffee und Kuchen das Urmel, Kim Knopf oder Kalle Wirsch zu mir nach Hause ein. Von der Kraft der Phantasie in dunkler Zeit handelt dieses Buch, so verspricht der Verlag. Und so war ich sehr gespannt auf »Herzfaden«, den Roman der Augsburger Puppenkiste. 

Wieser 2020, 380 S., ISBN: 978-3-99029-438-3, aus dem Tschechischen von Raija Hauck.

Alena Mornštajnová ist eine tschechische Schriftstellerin, Jahrgang 1963, die mit ihrem dritten Roman »Hana« einen immensen Erfolg hatte und immer noch hat. Seit dessen Erscheinen 2017 in Tschechien ist sie in ihrer Heimat sehr bekannt und wurde für »Hana« mit dem tschechischen Buchpreis ausgezeichnet. Inzwischen wurde ihr Bestseller in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Dieser Roman spielt zu Beginn in einer kleinen Stadt in Mähren im Jahre 1954 und deckt im weiteren Verlauf einen Zeitraum von den 1930er Jahren bis Anfang der 1960er Jahre ab. Die Erzählerinnen ist am Anfang des Romans Mira, die eigentliche Heldin aber ist die seltsame Tante Hana. Es geht in diesem Buch um jüdisches Leben und dessen Auslöschung in einem Ort in der Tschechoslowakei, über eine Epidemie, über Familienkonstellationen über vier Generationen, über Schicksal und Zufall, Verzweiflung, Mut und Lebenswillen. Einer der außergewöhnlichsten Romane, die ich in letzter Zeit gelesen habe.

Hanser 2020, 800 S., ISBN: 978-3446267695, neu übersetzt von Elisabeth Edl.

Gustave Flaubert wurde 1821 in Rouen, Frankreich geboren. Er starb 1880 in Croisset bei Rouen. Berühmt und wegweisend wurden seine Romane aufgrund seines objektivierenden Erzählstils: Keine Urteile, kein Erzähler, der in die Handlung eingreift. Die Figuren sprechen für sich und Widersprüche sind erwünscht. Dieses Credo verlangt eine besessene Recherche, für die der Autor berüchtigt war: Die beschriebenen Dinge müssen »richtig« sein, die Details haben zu stimmen. Gleichzeitig versuchte Flaubert die Sprache des Romans so nah wie möglich der Lyrik anzugleichen, der Rhythmus der Sprache ist entscheidend, jeder Satz jedes Wort hat seine Bedeutung. Kurz: Flaubert hat im Roman Neues geschaffen. Elisabeth Edl hat nach »Madame Bovary« nun auch das zweite große Meisterwerk des Franzosen übersetzt: Aus »Die Schule des Herzens«, »Lehrjahre des Gefühls« und Varianten davon wurde nun »Lehrjahre der Männlichkeit«. Ein erstes Thema für alle Kritiker der gefeierten Neuübersetzung.

Berenberg 2020, S. 168, ISBN 978-3-946334-76-7, auch als E-Book erhältlich.

Wer sagt eigentlich, dass in diesem Blog grundsätzlich nur Bücher, die aus der Mode sind, besprochen werden? Wilhelm-Raabe-Preisträgerin 2020, nominiert für den Deutschen Buchpreis 2020: Viel aktueller geht es nicht. Die Rede ist von Christine Wunnicke und ihrem in diesem Jahr erschienen wunderlich-kleinen Roman »Die Dame mit der bemalten Hand«. Frau Wunnnickes »Masche« ist es, tatsächliche Personen der Zeitgeschichte in tatsächlich existierende Orte zu senden, um diese in erfundenem Drumherum zu verwickeln. Auf diese Weise entsteht ein Spiel mit Historie und Möglichkeit, mit Fakten und fantastischer Komödie. So hat die Autorin es in »Katie«, so hat sie es in »Der Fuchs und Dr. Shimamura« gemacht. Das hier vorgestellte, wunderbar aufgemachte Buch (Extralob dem Berenberg Verlag) hat 168 Seiten und die darin erzählte Begegnung zweier Männer der Wissenschaft ist in 12 Kapitel unterteilt.

Rowohlt 2019, 1264 S., ISBN: 978-3-498-04537-1, übersetzt von Melanie Walz.

Da lese ich also ein 1200-seitiges Buch, Zeile für Zeile, nur um am Ende das Gefühl zu haben, es sofort noch einmal von vorne lesen zu müssen, um noch mehr in diesem Roman zu entdecken. Ach, wäre ich nur eine gewissenhafte Leserin mit genügend Zeit und Muße. So bleibt es vorerst bei dieser ersten Lektüre, voller Staunen, Bewunderung und Freude an diesem Roman. George Eliot hieß eigentlich Mary Ann Evans, wurde 1819 in der Nähe von Coventry geboren und verstarb 1880 in London. Ihr bemerkenswertestes Werk »Middlemarch« erschien zuerst in Fortsetzung 1870 bis 1871. Es war ihr vorletzter Roman und es gab noch mehrere durchgesehene Ausgaben zu ihren Lebzeiten. In Deutschland hatte das Buch bisher nicht den Erfolg wie z. B. die Bücher von Jane Austen oder Charles Dickens. Ein Grund hierfür war wohl die Schwierigkeit, die spezielle Eliotsche Ironie angemessen ins Deutsche zu übertragen. Zum Glück nahm sich Melanie Walz dieser Herausforderung an und seit letztem Jahr haben wir ein »Middelmarch« vorliegen, dass es den der englischen Sprache nicht (ausreichend) Kundigen den ungetrübten Genuss dieses wunderbaren Buches ermöglicht. 

PalmArtPress 2020, 350 S., ISBN: 978-3-96258-050-6

Ein Wenderoman, ein Berlinroman, ein Künstlerroman, über 45 Jahre nach Plenzdorfs »Die neuen Leiden des jungen W.« – eine Menge Zuschreibungen von Verlag und Autor. Ich lasse das erst einmal alles weg und beginne mit dem Lesen. Frederic Wianka hat also mit »Die Wende im Leben des jungen W.« sein Debüt gegeben. Vom Verlag erfahren wir, dass der Autor in Potsdam und Schwerin aufgewachsen ist und, nicht ohne Ironie vermerkt, ihm am 9. November 1989 der Ausreiseantrag genehmigt wurde. (Diese Daten verraten uns, dass er ein paar Dinge mit dem Helden seines Romans gemeinsam hat.) Dann erste Lesungen 2009, ein Literaturpreis 2010, 2020 »Die Wende im Leben des jungen W.«. Genug vom Autor, legen wir also los mit dem Buch.

Fischer 2009, 896 S., ISBN: 978-3-596-90209-5, auch als E-Book erhältlich.

Da war einiges los in meinen 10er Jahren: 1969 die Mondlandung, 70 die WM in Mexiko und 1971 schließlich »Die Frau in Weiß«, ein Fernsehdreiteiler, der die bundesrepublikanischen Straßen leerräumte, ein Straßenfeger eben. Schaut man sich auf Youtube diese Verfilmung des Wilkie-Collins-Klassikers an, so mag dieses Fernsehstück heutzutage nicht mehr recht zünden. Und der Roman? Die Wiederentdeckung dieses Schauerromans aus der viktorianischen Zeitepoche darf sich zu großen Teilen Arno Schmidt auf die Fahnen schreiben. 1962 übersetze er die rund 800 Seiten und nach anfänglichen Bedenken seitens des Verlags wegen des Umfangs kam »Die Frau in Weiß« ungekürzt und in der Übertragung von Arno Schmidt 1965 auf den Markt. Das Buch wurde ein Bestseller (wie auch das englische Original bei seiner Erstveröffentlichung 1860) und, wenn man so will, Arno Schmidts erfolgreichstes Buch. Und heute? Ich habe (leider) ein recht schlechtes Gedächtnis und so kannte ich den Plot dieses Klassikers nur noch schemenhaft. Gute Voraussetzung aber, um die Probe aufs Exempel zu probieren: Funktioniert »Die Frau in Weiß« auch heute noch?

DVB Verlag 2020, 380 S., ISBN: 3903244031

Maria Lazar wurde 1895 in Wien in eine großbürgerliche, jüdische Familie, die früh zum Katholizismus konvertiert war, hineingeboren. Schon 1920 veröffentlichte Maria Lazar ihren ersten Roman »Die Vergiftung«, eine Abrechnung mit der bürgerlichen Gesellschaft. Es folgten Bühnenstücke und der bis dato nur in einer gekürzten englischen Exil-Ausgabe existierende Roman »Leben verboten!« und schließlich 1937 »Die Eingeborenen von Maria Blut«. Diese drei Romane sind lediglich ein Ausschnitt des Schaffens der Autorin und wurden in den letzten Jahren im österreichischen DVB-Verlag neu aufgelegt. DVB bedeutet »Das vergessene Buch« und passender könnte für Maria Lazar, die aufgrund einer unheilbaren Erkrankung 1948 in Stockholm sich das Leben nahm, dieses Motto nicht sein. Heuer veröffentlichte der Verlag mit seinem Verleger Albert C. Eibl »Leben verboten!« – das erste Mal in seiner Originalfassung von 1932.

S.Fischer 1981, 302 S., ISBN: 978-3-10-048221-1, auch als TB und E-Book erhältlich.

1951, ein Jahr vor seiner Rückkehr aus seinem einstigen Exil in den USA in die Schweiz, veröffentlichte Thomas Mann seinen kürzesten Roman »Der Erwählte«. Insgesamt 3 Jahre schrieb er an diesem Werk, danach sollten bis zu seinem Tod 1955 an Bedeutenden noch der unvollendete Felix Krull und die Erzählung »Die Betrogene« folgen. Der Stoff für »Der Erwählte«, der schon im »Doktor Faustus« eine Rolle spielte, stammte aus dem Epos »Gregorius« des mittelhochdeutschen Dichters Hartmann von Aue. Dessen Quellen reichten noch weiter in der Zeit zurück. Es handelt sich um eine christliche Legende: Kindheit und Jugend des Papstes Gregor I. (540-604). Mann erzählt dieses Vers-Epos aus und bringt es aus dem Mythischen ins Psychologische. In der Tat geht es hier um heikle Themen: Inzest, Hochmut, Reue, Sühne, Vergebung. Urchristlicher Stoff, den Thomas Mann hier zu einem kleinen Juwel von Roman verarbeitet hat.

Historischer Stadtplan aus:
Reiner Stach, Die Kafka-Biographie in drei Bänden, S.Fischer 2017

Ende November 1922 formulierte der schwer erkrankte Franz Kafka an Max Brod seinen letzten Willen: »Von allem, was ich geschrieben habe, gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler … Wenn ich sage, daß jene 5 Bücher und die Erzählung gelten, so meine ich damit nicht, daß ich den Wunsch habe, sie mögen neu gedruckt und künftigen Zeiten überliefert werden, im Gegenteil, sollten sie ganz verloren gehn, entspricht dieses meinem eigentlichen Wunsch. Nur hindere ich, da sie schon einmal da sind, niemanden daran, sie zu erhalten, wenn er dazu Lust hat.«
Wäre es also nach Kafka gegangen, wären etwa 450 Seiten geblieben. (Hätte er das wirklich so haben wollen?)